Cryptonomicon
wären zuvor vielleicht Mimeographien angefertigt und verteilt worden. Aber das hier ist die reine Panik und Waterhouse weiß instinktiv, dass er gut daran täte, sein frühes Eintreffen auszunutzen, wenn er irgendetwas erfahren will. Und so geht er zu dem Karren hinüber und schnappt sich den untersten Aktenhefter, da er annimmt, dass man den wichtigsten als Erstes herausgezogen hat. Der Hefter trägt die Aufschrift U-691.
Die ersten paar Seiten sind bloß ein Formular: ein Unterseeboot-Datenblatt, das aus vielen Rubriken besteht. Die Hälfte davon ist leer. Die andere Hälfte ist zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Handschriften, mit verschiedenen Schreibwerkzeugen, vielen Radierstellen, Durchstreichungen und Anmerkungen sich absichernder Analytiker ausgefüllt worden.
Dann folgt ein Logbuch, das in chronologischer Reihenfolge sämtliche bekannten Unternehmungen von U-691 aufführt. Der erste Eintrag ist sein Stapellauf am 19. September 1940 in Wilhelmshaven, gefolgt von einer langen Liste der Schiffe, die es ermordet hat. Es gibt eine merkwürdige Eintragung, die ein paar Monate zurückliegt: AUSGERÜSTET MIT VERSUCHSGERÄT (SCHNORCHEL?). Seither ist U-691 wie verrückt hin und her gerast und hat in der Chesapeake Bay, vor Maracaibo, den Zufahrten zum Panamakanal und an vielen anderen Orten, die Waterhouse bisher nur als Winterkurorte für reiche Leute gekannt hat, Schiffe versenkt.
Zwei weitere Menschen betreten den Raum und setzen sich: Colonel Chattan und ein junger Mann in einem ramponierten Smoking, der (einem Gerücht zufolge, das die Runde im Raum macht) Schlagzeuger eines Symphonieorchesters sein soll. Letzterer hat sich erkennbar bemüht, sich Lippenstift vom Gesicht zu wischen, aber in den Falten seines linken Ohrs einiges übersehen. Das sind die Härten des Krieges.
Noch ein Adjutant kommt mit einem Drahtkorb voller Klartext-Zettel von ULTRA-Funksprüchen hereingeeilt. Das sieht nach sehr viel heißerem Zeug aus; Waterhouse legt den Aktenhefter zurück und beginnt, die Zettel durchzublättern.
Jeder beginnt mit einem Datenblock, der die Abhörstation, die ihn aufgefangen hat, die Uhrzeit, die Frequenz und andere Einzelheiten nennt. Der Zettelstapel gibt ein auf die vergangenen Wochen verteiltes Gespräch wieder, das über zwei Sender geführt wurde.
Der eine steht in einem Berliner Stadtteil namens Charlottenburg auf dem Dach eines Hotels am Steinplatz: dem vorläufigen Standort des Unterseeboot-Kommandos, das kürzlich von Paris dorthin verlegt worden ist. Die meisten der dort abgesetzten Funksprüche sind von Großadmiral Dönitz unterzeichnet.Waterhouse weiß, dass Dönitz vor kurzem Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine geworden ist, sich jedoch dafür entschieden hat, seinen vorherigen Titel des Befehlshabers der Unterseeboote beizubehalten. Dönitz hat eine Schwäche für Unterseeboote und die Männer, die damit fahren.
Der andere Sender gehört niemand anderem als U-691. Die dort abgesetzten Funksprüche sind vom Skipper, Kapitänleutnant Günter Bischoff, unterzeichnet.
Bischoff: Wieder ein Handelsschiff versenkt. Dieser neumodische Radar-Scheiß ist überall.
Dönitz: Verstanden. Gut gemacht.
Bischoff: Wieder einen Tanker erledigt. Die Schweine wissen offenbar genau, wo ich bin. Gott sei Dank gibt’s den Schnorchel.
Dönitz: Verstanden. Wie üblich ausgezeichnete Arbeit.
Bischoff: Wieder ein Handelsschiff versenkt. Flugzeuge haben schon auf mich gewartet. Eines davon abgeschossen; es ist auf mir gelandet und in Flammen aufgegangen, dabei sind drei meiner Männer verbrannt. Seid ihr sicher, dass dieses Enigma-Ding wirklich funktioniert?
Dönitz: Ausgezeichnete Arbeit, Bischoff! Das gibt wieder einen Orden! Machen Sie sich keine Sorgen wegen Enigma, die ist fantastisch.
Bischoff: Ich habe einen Geleitzug angegriffen und drei Handelsschiffe, einen Tanker und einen Zerstörer versenkt.
Dönitz: Hervorragend! Noch ein Orden für Sie!
Bischoff: Habe nur aus Jux kehrtgemacht und den Rest des Geleitzuges erledigt. Dann ist ein weiterer Zerstörer aufgetaucht und hat drei Tage lang Wasserbomben nach uns geworfen. Wir sind alle halb tot, durchgeweicht von unseren eigenen Ausscheidungen wie Ratten, die in eine Latrine gefallen sind und langsam ersaufen.Vom Einatmen unseres eigenen Kohlendioxids sind unsere Hirne brandig.
Dönitz: Sie sind ein Held des Reiches und der Führer persönlich wurde von Ihrem brillanten Erfolg unterrichtet! Hätten Sie etwas dagegen,
Weitere Kostenlose Bücher