Cryptonomicon
was hat eigentlich das Handelsschiff aus Trinidad mit der ganzen Sache zu tun?«
Chattan bringt Waterhouse mit einem Blick zum Schweigen und antwortet: »Das sage ich Ihnen nicht.« Die Runde quittiert es mit anerkennendem Gelächter, als hätte er gerade auf einer Dinnerparty ein Bonmot zum Besten gegeben. »Aber wenn Admiral Dönitz ebendiese Funksprüche liest, ist er bestimmt genauso verwirrt wie Sie. Wir hätten gern, dass das so bleibt.«
»Faktum 1: Er weiß, dass ein Handelsschiff versenkt wurde«, meldet sich Turing und zählt die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Faktum 2: Er weiß, dass wenige Stunden später ein Unterseeboot der Royal Navy zur Stelle war und ebenfalls versenkt wurde. Faktum 3: Er weiß, dass zwei unserer Leute aus dem Wasser gefischt wurden und dass sie vermutlich mit der Nachrichtenbeschaffung zu tun haben, was nach meinem Dafürhalten eine sehr grobe Kategorisierung ist. Aber er kann aufgrund dieser äußerst knappen Funksprüche nicht unbedingt irgendwelche Schlüsse im Hinblick darauf ziehen, von welchem Schiff – dem Handelsschiff oder dem Unterseeboot – die beiden Männer gekommen sind.«
»Aber das ist doch offensichtlich, oder?«, sagt Kreuzworträtsel. »Sie sind von dem Unterseeboot gekommen.«
Chattan antwortet nur mit einem breiten Grinsen.
»Oh!«, sagt Kreuzworträtsel. Überall in der Runde heben sich Augenbrauen.
»In dem Maße, wie Beck weiterhin Funksprüche an Admiral Dönitz absetzt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Dönitz etwas erfährt, von dem wir nicht wollen, dass er es weiß«, sagt Chattan. »Und diese Wahrscheinlichkeit wird praktisch zur Gewissheit, wenn U-691 unversehrt Wilhelmshaven erreicht.«
»Einspruch!«, blafft der Rabbi. Alles ist völlig verblüfft und es tritt längeres Schweigen ein, während der Mann sich mit zitternden Händen an der Tischkante festklammert und unsicher auf die Beine kommt. »Wichtig ist nicht, ob Beck Funksprüche absetzt! Sondern ob Dönitz diese Funksprüche glaubt!«
»Hört, hört! Sehr scharfsinnig!«, sagt Turing.
»Ganz recht! Danke für diese Klarstellung, Herr Kahn«, sagt Chattan.
»Verzeihen Sie bitte«, sagt der Dozent, »aber warum um alles in der Welt soll er sie denn nicht glauben?«
Das ruft längeres Schweigen hervor. Der Dozent hat ein schlagendes Argument vorgebracht und damit alle auf den kalten, harten Boden der Wirklichkeit zurückgebracht. Der Rabbi beginnt, etwas zu murmeln, was ziemlich abwehrend klingt, wird jedoch von einer Donnerstimme von der Tür her unterbrochen, die auf Deutsch »FUNKSPIEL!« brüllt.
Alles dreht sich zu dem Menschen hin, der gerade zur Tür hereingekommen ist: ein gut erhaltener Mann in den Fünfzigern mit vorzeitig weiß gewordenem Haar, einer ungeheuer dicken Brille, die seine Augen vergrößert, und einer regelrechten Schneewehe von Schuppen, die seinen marineblauen Blazer bedecken.
»Guten Morgen, Elmer!«, sagt Chattan mit der gezwungenen Fröhlichkeit eines Psychiaters, der eine geschlossene Abteilung betritt.
Elmer kommt ins Zimmer und wendet sich den Versammelten zu. »FUNKSPIEL!«, brüllt er abermals mit unangemessen lauter Stimme und Waterhouse fragt sich, ob der Mann betrunken oder taub oder beides ist. Elmer kehrt ihnen den Rücken zu und starrt eine Zeit lang auf ein Bücherregal, dann dreht er sich mit erstauntem Blick wieder zu ihnen um. »Ich hab eigentlich damit gerechnet, dass da eine Tafel ist«, sagt er mit Texarkana-Akzent. »Was ist denn das für ein Klassenzimmer?« Das ruft nervöses Gelächter in der Runde hervor, während jeder dahinter zu kommen versucht, ob Elmer trockenen Humor zum Besten gibt oder völlig verrückt ist.
»Das bedeutet ›radio game‹«, übersetzt Rabbi Kahn.
»Danke, Sir!«, erwidert Elmer rasch und mit verärgert klingender Stimme. »Funkspiel. Die Deutschen spielen es schon den ganzen Krieg über. Jetzt sind wir an der Reihe.«
Noch vor wenigen Momenten fand Waterhouse die ganze Szene ungemein britisch, fühlte sich sehr fern von zu Hause und wünschte, es wären ein, zwei Amerikaner anwesend. Nun, da dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist, möchte er bloß noch auf allen vieren aus dem Herrenhaus kriechen.
»Wie spielt man denn dieses Spiel, Mr., äh...«, fragt Kreuzworträtsel.
»Sie können Elmer zu mir sagen!«, brüllt Elmer. Alles fährt vor ihm zurück.
»Elmer!«, sagtWaterhouse, »würden Sie bitte aufhören, so zu brüllen?«
Elmer dreht sich in Waterhouses Richtung und blinzelt
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