Cryptonomicon
sie. Sie betrachtet träge eine Karte von Skandinavien. Schweden hängt wie ein schlaffer, beschnittener Phallus. Darunter die skrotale Wölbung von Finnland. Dessen Ostgrenze, mit Russland, hat keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der Realität. Die illusorische Grenze ist mit einem wütenden Kreuz-und-Quer von Bleistiftstrichen überzogen, den Axthieben von Stalins wiederholten Anstrengungen, Skandinavien zu kastrieren, zwanghaft dokumentiert und annotiert von Julietas Onkel, der wie alle Finnen ein erstklassiger Skifahrer, Meisterschütze und unbeugsamer Krieger ist.
Trotzdem verachten sie einander. In Shaftoes Augen liegt das daran, dass die Finnen ihre Verteidigung schließlich an die Deutschen vergeben haben. Die Finnen zeichneten sich durch einen altmodischen, persönlich gehaltenen, en detail arbeitenden Stil des Russen-Umbringens aus, doch als ihnen allmählich die Finnen ausgingen, mussten sie die Deutschen zu Rate ziehen, die zahlreicher sind und das Abschlachten von Russen en gros perfektioniert haben.
Julieta kann über diese einfältige Theorie nur lachen: Die Finnen sind eine Million Mal komplizierter, als Bobby Shaftoe je begreifen wird. Selbst wenn es nie zum Krieg gekommen wäre, gäbe es unendlich viele Gründe für sie, ständig deprimiert zu sein. Es hat noch nicht einmal Sinn, das alles erklären zu wollen. Sie kann ihm lediglich die verschwommensten Einblicke in die Psychologie der Finnen verschaffen, indem sie alle paar Wochen bis zum Umfallen mit ihm vögelt.
Er liegt schon zu lange da. Bald wird der in seiner Harnröhre zurückgebliebene Saft wie Kunstharz aushärten. Diese Gefahr spornt ihn zum Handeln an. Er schlüpft aus dem Bett, zuckt unter der Kälte zusammen, hüpft über kalte Dielen zum Teppich, hastet instinktiv der Wärme des Ofens entgegen.
Julieta dreht sich auf den Rücken, um ihm zuzusehen. Sie betrachtet ihn prüfend. »Stell dich nicht so an«, sagt sie. »Mach mir Kaffee.«
Shaftoe schnappt sich den gusseisernen Kessel der Hütte, der ohne weiteres als Schiffsanker verwendbar wäre, falls sich die Notwendigkeit ergäbe. Er wirft sich eine Decke über die Schultern und läuft nach draußen. Am Rand des Hafendamms bleibt er stehen, weil er weiß, dass der splittrige Landesteg seinen nackten Füssen nicht gut tun wird, und pisst auf den Strand hinunter. Der gelbe Bogen ist von Dampf verschleiert und duftet nach Kaffee. Mit zusammengekniffenen Augen schaut Shaftoe über den Meerbusen und sieht einen Schleppkahn, der eine Ladung Baumstämme die Küste entlangzieht, und ein paar Segel, nicht aber das von Onkel Otto.
Hinter der Hütte gibt es ein Standrohr, das von einer Quelle in den Bergen gespeist wird. Shaftoe füllt den Kessel, schnappt sich ein paar Scheite Feuerholz, eilt wieder nach drinnen und manövriert sich zwischen Stapeln von in Folie verpacktem Kaffee und Kisten mit finnischer Maschinenpistolenmunition hindurch. Er stellt den Kessel auf den eisernen Ofen und legt kräftig Holz nach.
»Du verbrauchst zu viel Holz«, sagt Julieta, »Onkel Otto wird was merken.«
»Ich hacke noch welches«, sagt Shaftoe. »Das ganze Land ist doch voller Holz und sonst nichts.«
»Onkel Otto lässt dich den ganzen Tag Holz hacken, wenn er wütend auf dich wird.«
»Es ist also in Ordnung, wenn ich mit Ottos Nichte schlafe, aber wenn ich ein bisschen Holz verbrenne, um ihr Kaffee zu machen, ist das Grund genug, mich schuften zu lassen?«
»Schuften«, sagt Julieta. »Schufte, die Holz verbrauchen, müssen schuften.«
Ganz Finnland ist (wenn man Otto Glauben schenken will) in eine endlose Nacht existentieller Verzweiflung und selbstmörderischer Depression gestürzt worden. Die üblichen Gegenmittel – Selbstgeißelung mit eingeweichten Birkenzweigen, ätzender Humor, wochenlange Sauftouren – haben sich erschöpft. Das Einzige, was Finnland jetzt noch retten kann, ist Kaffee. Leider war die Regierung so kurzsichtig, Steuern und Zölle ins Astronomische zu erhöhen. Angeblich sollen damit das Umbringen von Russen und die Umsiedelung der Hunderttausende von Finnen finanziert werden, die jedes Mal ihre Zelte abbrechen und umziehen müssen, wenn sich Stalin in einer besoffenen Laune oder Hitler in einem psychotischen Schub mit einem roten Stift über eine Landkarte hermacht. Das wirkt sich schlicht so aus, dass Kaffee schwerer zu bekommen ist. Otto zufolge ist Finnland eine Nation unproduktiver Zombies, außer in Gegenden, die von den Verteilungsnetzen der Kaffeeschmuggler
Weitere Kostenlose Bücher