Cryptonomicon
tut irgendetwas, ohne dass er es ihm befiehlt. Aller Verbindungen zur physischen Welt entledigt, läuft sein Geist im Kreis, wie ein Motor, der seine Antriebswelle verloren hat, ohne Sinn und Zweck auf Vollgas röhrt und sich dabei verbraucht. Normalerweise taucht er erst wieder aus diesem Zustand auf, wenn ihn jemand anspricht. Dann fallen weitere Bomben.
Eines Nachts bemerkt er, dass er Sand unter den Füßen hat. Seltsam.
Die Luft riecht frisch und sauber. Noch nie da gewesen.
Andere marschieren mit ihm auf dem Sand.
Sie werden von zwei schlurfenden Gefreiten und einem Unteroffizier begleitet, der sich unter der Last eines Nambu krümmt. Der Unteroffizier schaut Goto Dengo mit seltsamem Blick ins Gesicht. »Hiroshima«, sagt er.
»Haben Sie etwas zu mir gesagt?«
»Hiroshima.«
»Aber was haben Sie gesagt, bevor Sie Hiroshima gesagt haben?«
»In.«
»In?«
»In Hiroshima.«
»Was haben Sie gesagt, bevor Sie ›in Hiroshima‹ gesagt haben?«
»Tante.«
»Sie haben etwas über Ihre Tante in Hiroshima zu mir gesagt?«
»Ja. Meine Tante auch.«
»Was heißt das, sie auch?«
»Dieselbe Nachricht.«
»Was für eine Nachricht?«
»Die Nachricht, die Sie für mich auswendig gelernt haben. Sie soll sie auch bekommen.«
»Aha«, sagt Goto Dengo.
»Haben Sie die Liste noch im Kopf?«
»Die Liste der Leute, denen ich die Nachricht bestellen soll?«
»Ja. Zählen Sie sie noch einmal auf.«
Nach seinem Akzent zu urteilen, stammt der Unteroffizier, wie die meisten der hier postierten Soldaten, aus Yamaguchi. Er wirkt eher, als käme er vom Land als aus der Stadt. »Äh, Ihre Mutter und Ihr Vater auf dem Bauernhof in Yamaguchi.«
»Ja!«
»Und Ihr Bruder, der – bei der Marine ist?«
»Ja!«
»Und Ihre Schwester, die -«
»Lehrerin in Hiroshima ist, sehr gut!«
»Und dann noch Ihre Tante, die auch in Hiroshima wohnt.«
»Und vergessen Sie meinen Onkel in Kure nicht.«
»Ach so, ja. Verzeihung.«
»Schon gut. Und jetzt sagen Sie mir noch einmal die Nachricht, damit Sie sie auch ganz bestimmt nicht vergessen.«
»Okay«, sagt Goto Dengo und holt tief Atem. Nun kommt er allmählich wieder richtig zu sich. Sie stapfen zum Meer hinunter: er und ein halbes Dutzend andere, allesamt unbewaffnet und in den Händen kleine Bündel, begleitet von dem Unteroffizier und den Gefreiten. Unten, in der sanften Brandung, wartet ein Schlauchboot auf sie.
»Wir sind schon fast da! Sagen Sie mir die Nachricht! Machen Sie schon!«
»Meine geliebte Familie«, beginnt Goto Dengo.
»Sehr gut – perfekt bis jetzt!«, sagt der Unteroffizier.
»Meine Gedanken sind wie immer bei euch«, rät Goto Dengo.
Der Unteroffizier schaut leicht geknickt drein. »So ungefähr – weiter.«
Sie haben das Boot erreicht. Die Mannschaft schiebt es ein paar Schritte in die Brandung hinaus. Goto Dengo schweigt ein paar Augenblicke lang und sieht zu, wie die anderen ins Wasser waten und ins Boot klettern. Dann stößt ihn der Unteroffizier in den Rücken. Goto Dengo wankt in den Ozean hinaus. Noch hat niemand begonnen, ihn anzubrüllen – man streckt ihm sogar die Hand entgegen, zieht ihn hinein. Er fällt auf den Boden des Bootes und rappelt sich in eine kniende Haltung auf, während die Mannschaft losrudert. Sein Blick hält den des Corporals fest, der am Strand steht.
»Das ist die letzte Nachricht, die ihr von mir erhalten werdet, denn mittlerweile habe ich längst auf dem heiligen Boden des Schreins von Yasukuni Ruhe gefunden.«
»Nein! Nein! Ganz falsch!«, schreit der Unteroffizier.
»Ich weiß, dass ihr mich dort besuchen und meiner voll Zuneigung gedenken werdet, so wie ich eurer gedenke.«
Der Unteroffizier platscht in die Brandung, versucht dem Boot nachzusetzen, und die Gefreiten stürzen ihm nach und packen ihn an den Armen. Der Unteroffizier brüllt: »Bald werden wir den Amerikanern eine vernichtende Niederlage beibringen und dann werde ich zusammen mit meinen Kameraden im Triumph durch die Straßen von Hiroshima nach Hause marschieren!« Er rezitiert es wie ein Schuljunge, der seine Lektion aufsagt.
»Ihr sollt wissen, dass ich in einer großartigen Schlacht tapfer gestorben bin und mich nicht einen Moment lang vor meiner Pflicht gedrückt habe!«, brüllt Goto Dengo zurück.
»Bitte schickt mir starken Faden, damit ich meine Stiefel flicken kann!«, schreit der Unteroffizier.
»Die Armee hat sich gut um uns gekümmert und wir haben die letzten Monate unseres Lebens in solcher Bequemlichkeit und
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