Cryptonomicon
erschlossen worden sind. Der ganze Begriff von Glück ist Finnen im Allgemeinen fremd; sie haben allerdings das Glück, nur durch den Bottnischen Meerbusen von einem neutralen, einigermaßen wohlhabenden Land getrennt zu sein, das für seinen Kaffee berühmt ist.
Vor diesem Hintergrund bedarf die Existenz einer kleinen finnischen Kolonie in Norrsbruck eigentlich keiner weiteren Erklärung mehr. Das Einzige, was fehlt, sind kräftige Arme, um den Kaffee auf das Boot zu laden und abzuladen, was Otto an Beute mitbringt. Gesucht: ein kräftiger Trottel, der bereit ist, sich inoffiziell in der jeweiligen Währung bezahlen zu lassen, die Otto zufällig gerade herausrückt.
Sergeant Bobby Shaftoe, USMC, schüttet ein paar Bohnen in die Kaffeemühle und fängt an, die Kurbel zu bearbeiten. In der Kaffeekanne darunter sammelt sich ein schwarzes Geriesel. Er hat gelernt, das Zeug auf schwedische Art zu machen und ein Ei hineinzuschlagen, damit sich das Pulver setzt.
Holz hacken, Julieta vögeln, Kaffee mahlen, Julieta vögeln, auf den Strand pinkeln, Julieta vögeln, Onkel Ottos Boot beladen und entladen. Das ist seit einem halben Jahr so ziemlich alles für Bobby Shaftoe. In Schweden hat er das ruhige, graugrüne Auge des Blutsturms gefunden, der über die Welt hinwegfegt.
Das zentrale Geheimnis ist Julieta Kivistik. Sie haben keine Liebesaffäre, sie haben eine Reihe von Liebesaffären. Zu Beginn jeder Affäre reden sie noch nicht einmal miteinander, kennen einander gar nicht. Shaftoe ist bloß ein ziellos herumwandernder Mensch, der für ihren Onkel arbeitet. Am Ende jeder Affäre sind sie miteinander im Bett und vögeln. Dazwischen liegen ein bis drei Wochen taktischer Manöver, Fehlstarts und emsiger, draufgängerischer Flirterei.
Davon abgesehen ist jede Affäre vollkommen anders, wie eine ganz neue Beziehung zwischen zwei ganz anderen Leuten. Das Ganze ist verrückt. Wahrscheinlich weil Julieta verrückt ist – viel verrückter als Bobby Shaftoe. Aber Bobby Shaftoe hat auch keinen Grund, hier und jetzt verrückt zu sein.
Er kocht den Kaffee, schlägt das Ei hinein, gießt ihr einen Becher voll. Das ist reine Höflichkeit: Ihre Affäre ist soeben zu Ende gegangen und die neue hat noch nicht begonnen.
Als er ihr den Becher bringt, sitzt sie im Bett, raucht eine weitere Zigarette und räumt (typisch Frau) seine Brieftasche aus, eine Arbeit, die er nicht mehr gemacht hat, seit – ja, seit er das Ding vor zehn Jahren in Oconomowoc gebastelt und damit die Voraussetzungen für das Pfadfinderabzeichen für Arbeiten in Leder erfüllt hat. Julieta hat das Futter aus dem Ding herausgezogen und geht es durch, als wäre es ein Taschenbuch. Zum großen Teil ist das Zeug da drin von Meerwasser ruiniert worden. Aber sie betrachtet eingehend einen Schnappschuss von Glory.
»Her damit!«, sagt er und entreißt ihn ihr.
Wenn sie seine Liebhaberin wäre, würde sie versuchen, ihn von sich abzuhalten, es gäbe eine alberne Rangelei und am Ende, vielleicht, wieder Sex. Aber sie ist jetzt eine Fremde und überlässt ihm die Brieftasche.
Sie sieht ihm zu, wie er den Kaffee abstellt, als wäre er Kellner in einem Café.
»Du hast eine Freundin – wo? In Mexiko?«
»Manila«, sagt Bobby Shaftoe, »falls sie überhaupt noch lebt.«
Julieta nickt, bleibt vollkommen gelassen. Sie ist weder eifersüchtig auf Glory noch macht sie sich Sorgen über Glorys Schicksal in den Händen der Nips. Was auf den Philippinen passiert, kann auch nicht schlimmer sein als das, was sie in Finnland erlebt hat. Und warum sollte sie sich überhaupt um die früheren romantischen Verwicklungen des Schauermanns ihres Onkels kümmern, dieses Wie-hieß-er-doch-gleich?
Shaftoe zieht Boxershorts an, eine Wollhose, ein Hemd und einen Pullover. »Ich gehe in die Stadt«, sagt er. »Sag Otto, dass ich zum Entladen wieder da bin.«
Julieta sagt nichts.
Als letzte höfliche Geste bleibt Shaftoe an der Tür stehen, greift hinter einen Kistenstapel, zieht die Suomi-Maschinenpistole 19 hervor und überprüft sie: sauber, geladen, schussbereit, genau wie vor einer Stunde, als er sie das letzte Mal überprüft hat. Er legt sie an ihren Platz zurück, dreht sich um, hält einen Moment lang Julietas Blick fest. Dann geht er hinaus und zieht die Tür zu. Hinter sich kann er ihre nackten Füße auf dem kalten Boden und das zufriedenstellende Geräusch hören, mit dem die Türriegel vorgeschoben werden.
Er schlüpft in ein Paar hohe Gummistiefel und stapft am Strand
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