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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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frisch rasierten Haut seines Halses anfühlt. Er beginnt den Aufstieg. Glory wiegt nicht viel, aber schon nach vier Stufen schwitzt er leicht. Aus zehn Zentimetern Entfernung beobachtet sie ihn auf Anzeichen von Ermüdung und er spürt, wie er errötet. Bloß gut, dass die ganze Treppe von ungefähr zwei Kerzen erleuchtet wird. Es gibt eine herrliche Büste des dornengekrönten Jesus, dem lange, parallele Blutstropfen über das Gesicht laufen, und zur Rechten -
    »Diese riesigen Steine, auf denen du gehst, sind vor Jahrhunderten und Aberjahrhunderten, als Amerika überhaupt noch kein Land war, in Mexiko gebrochen worden. Sie sind in den Manila-Galleonen hierher gebracht worden, als Ballast.« Sie spricht es bayast aus.
    »Donnerwetter.«
    »Bei der Ankunft der Galleonen hat man die Steine einen nach dem anderen aus den Schiffsrümpfen geholt, sie hierher zur Kirche San Augustin gebracht und aufeinander gestapelt. Jeden Stein auf den vom letzten Jahr. Bis die Treppe schließlich nach vielen, vielen Jahren fertig war.«
    Nach einer Weile kommt es Shaftoe so vor, als würde es mindestens ebenso viele Jahre dauern, das Ende des verdammten Dings zu erreichen. Den oberen Absatz ziert ein lebensgroßer Jesus, der ein Kreuz trägt, das den Eindruck macht, als wäre es mindestens ebenso schwer wie eine dieser Stufen. Worüber hat er sich also zu beklagen? Dann sagt Glory: »Und jetzt trag mich hinunter, damit du die Geschichte nicht vergisst.«
    »Hältst du mich etwa für irgend so einen geilen Marine, der sich eine Geschichte nur dann merken kann, wenn ein hübsches Mädchen drin vorkommt?«
    »Ja«, sagt Glory und lacht ihm ins Gesicht. Er trägt sie wieder hinunter. Und ehe sie sich etwas anderes einfallen lassen kann, trägt er sie geradewegs zur Tür hinaus und in das Taxi.
    Bobby Shaftoe ist keiner, der in der Hitze des Gefechts so leicht die Nerven verliert, aber der Rest des Abends ist für ihn wie ein verschwommener Fiebertraum. Nur ein paar Eindrücke durchdringen den Nebel: wie sie vor einem Hotel an der Promenade aussteigen; wie alle anderen Jungs Glory anglotzen; wie er die anderen anfunkelt und damit droht, ihnen Manieren beizubringen. Das Langsamtanzen mit Glory im Ballsaal, und wie Glorys in Seide gehüllter Oberschenkel sich ganz allmählich zwischen seine Beine schiebt und ihr fester Körper sich immer enger an ihn drückt. Wie sie Hand in Hand unterm Sternenlicht den Hafendamm entlang bummeln. Bemerken, dass Ebbe herrscht. Einen Blick wechseln. Und wie er sie vom Hafendamm auf den schmalen Streifen Kiestrand darunter trägt.
    Als er sie dann tatsächlich vögelt, hat er mehr oder weniger das Bewusstsein verloren und ist in irgendeinen fantastischen, libidinösen Traum abgedriftet. Er und Glory vögeln ohne das geringste Zögern, ohne die leisesten Zweifel, ja überhaupt ohne irgendwelche störenden Gedanken. Ihre Körper sind spontan miteinander verschmolzen, wie zwei Wassertropfen, die auf einer Fensterscheibe ineinander laufen. Wenn er überhaupt irgendetwas denkt, dann, dass sein ganzes Leben in diesem Moment kulminiert. Seine Kindheit in Oconomowoc, der High-School-Abschlussball, die Rotwildjagd auf der Upper Peninsula, die Grundausbildung auf Parris Island, sämtliche Keilereien und Kämpfe in China, sein Zweikampf mit Sergeant Frick, das alles ist der Schaft hinter einer Speerspitze.
    Irgendwo dröhnen Sirenen. Mit einem Ruck gewinnt er das Bewusstsein wieder. Ist er etwa die ganze Nacht hier gewesen und hat Glory gehalten, ihren Rücken an den Hafendamm gedrückt, ihre Oberschenkel um seine Taille geschlungen? Das ist unmöglich. Die Flut ist überhaupt nicht gekommen.
    »Was ist denn?«, fragt sie. Sie hat die Hände in seinem Nacken verschränkt. Jetzt löst sie ihren Griff und streicht ihm über die Brust.
    Ohne sie loszulassen, seine Hände als Räuberleiter unter ihrem warmen, makellosen Hintern, weicht Shaftoe vom Hafendamm zurück, dreht sich auf dem Strand um und blickt zum Himmel auf. Er sieht Suchscheinwerfer angehen. Und es ist keine Hollywoodpremiere.
    »Es ist Krieg, Baby«, sagt er.

VORSTÖSSE
    Die Eingangshalle des Manila Hotels ist ungefähr so groß wie ein Footballplatz. Sie riecht nach dem Parfüm vom letzten Jahr, seltenen tropischen Orchideen und Insektenspray. Neben dem Eingang ist ein Metalldetektor angebracht, denn der Premierminister von Zimbabwe hält sich zufällig für ein paar Tage hier auf. Dicke Afrikaner in guten Anzügen stehen in Grüppchen zu zweit oder zu dritt

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