Cryptonomicon
Ufern des Jangtse das Eis brechen. Durch eine Tür kann er am Ende des Flurs eine Ecke der Familienkapelle sehen, nichts als gotische Bögen, ein vergoldeter Altar und davor eine Kniebank, deren besticktes Polster von Mrs. Pascuals Kniescheiben abgewetzt ist.
Zigaretten, in einer großen lackierten Schatulle gestapelt wie Artilleriegranaten in einer Kiste, werden herumgereicht. Man trinkt Tee und tauscht, so kommt es ihm vor, ungefähr sechsunddreißig Stunden lang Oberflächlichkeiten aus. Mrs. Pascual möchte immer wieder versichert bekommen, dass alles in bester Ordnung ist und es keinen Krieg geben wird. Mr. Pascual ist offensichtlich davon überzeugt, dass der Krieg unmittelbar bevorsteht, und brütet im Wesentlichen vor sich hin. Die Geschäfte gehen in letzter Zeit gut. Er und Jack Shaftoe, Bobbys Onkel, haben eine Menge Güter zwischen hier und Singapur hin und her verfrachtet. Aber die Geschäfte werden bald sehr viel schlechter gehen, glaubt er.
Glory erscheint. Sie hat ihre Schwesternschülerinnenkluft abgelegt und trägt ein Kleid. Bobby Shaftoe kippt beinahe rückwärts aus dem Fenster. Erneut stellt Mrs. Pascual die beiden einander förmlich vor. Bobby Shaftoe küsst Glory die Hand, eine in seinen Augen höchstwahrscheinlich galante Geste. Er ist froh, dass er es tut, denn Glory hält ein eng zusammengefaltetes Zettelchen in der hohlen Hand, das in seiner Hand landet.
Glory nimmt Platz und bekommt ihrerseits eine Tasse Tee. Eine weitere Ewigkeit von Belanglosigkeiten. Mr. Pascual fragt ihn zum siebenundachtzigsten Mal, ob er sich schon bei seinem Onkel Jack gemeldet hat, und Shaftoe wiederholt, er sei buchstäblich gerade vom Schiff gekommen und werde Onkel Jack ganz gewiss morgen früh besuchen. Er entschuldigt sich und geht auf die Toilette, einen altmodischen Zweisitzer, errichtet über zwei tiefen Schächten, die bestimmt bis in die Hölle hinabreichen. Er entfaltet und liest Glorys Zettel, prägt sich die Anweisungen ein, zerreißt ihn dann und spült ihn das Loch hinunter.
Mrs. Pascual gesteht den beiden jungen Liebenden eine volle halbe Stunde gemeinsamer »Ungestörtheit« zu, was bedeutet, dass die Pascuals das Zimmer verlassen und nur ungefähr alle fünf Minuten zurückkehren, um sie zu kontrollieren. Es kommt zu einer schrecklich komplizierten und ausführlichen Abschiedszeremonie, die damit endet, dass Shaftoe auf die Straße zurückkehrt und Glory ihm vom Balkon aus nachwinkt.
Eine halbe Stunde später machen sie Zungenjudo in einem von Pferden gezogenen Taxi, das über die Pflastersteine auf die Nachtklubs von Malate zurattert. Für einen hoch motivierten China-Marine und einen Zug kesser Schwesternschülerinnen war es ein Klacks, Glory aus dem Hause der Pascuals herauszuschmuggeln.
Aber Glory küsst ihn offenbar mit offenen Augen, denn plötzlich windet sie sich los und sagt zu dem Taxifahrer: »Stopp! Bitte halten Sie an, Sir!«
»Was ist denn?«, sagt Shaftoe mit undeutlicher Stimme. Er blickt sich um und sieht nichts als eine riesengroße alte Steinkirche über ihnen aufragen. Das löst einen kurzen Anflug von Angst aus. Doch die Kirche ist dunkel, es sind keine Filipinas in langen Kleidern und keine Marines in Ausgehuniform da, es kann also nicht seine Hochzeit sein.
»Ich will dir etwas zeigen«, sagt Glory und steigt aus dem Taxi. Shaftoe muss ihr in das Gebäude – die Kirche San Augustin – folgen. Er ist schon oft an dem Klotz vorbeigekommen, aber er hätte nie gedacht, dass er einmal hineingehen würde – und das noch bei einem Rendezvous .
Sie steht am Fuß einer riesigen Treppe und sagt: »Siehst du?«
Shaftoe blickt in Dunkelheit hinauf und denkt, es gibt dort oben womöglich ein, zwei Buntglasfenster, vielleicht eine Zerfleischung Christi oder eine Aufspießung des Heiligen Leibes, aber -
»Schau nach unten«, sagt Glory und tippt mit dem Fuß gegen die erste Stufe der Treppe. Es handelt sich um einen einzelnen riesengroßen Granitquader.
»Sieht nach zehn bis zwanzig Tonnen Stein aus, würde ich schätzen«, sagt er mit Entschiedenheit.
»Er stammt aus Mexiko.«
»Nun hör aber auf!«
Glory lächelt ihn an. »Trag mich die Treppe hoch.« Und für den Fall, dass Shaftoe daran denkt abzulehnen, lässt sie sich gegen ihn fallen, sodass ihm keine Wahl bleibt, als sie aufzufangen. Sie klemmt seinen Nacken in ihrer Armbeuge fest, um ihr Gesicht besser an seines heranziehen zu können, doch im Gedächtnis bleibt ihm, wie die Seide ihres Ärmels sich an der
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