Cryptonomicon
können, ob man ihn in Richtung Leipzig, Königsberg oder Warschau bringt.
Das ist nicht ungeschickt, erweist sich jedoch als vergebliche Mühe, denn die Gestapo-Leute führen ihn zu einem Gleis, das auf der Abfahrtstafel nicht aufgeführt ist. Ein kurzer Zug wartet dort. Er enthält keine Güterwaggons, für Rudi eine Erleichterung, da er meint, er habe in den letzten Jahren verschiedentlich Güterwaggons gesehen, die mit Menschen voll gestopft zu sein schienen. Diese Beobachtungen waren jedes Mal flüchtig und unwirklich und er kommt nicht recht dahinter, ob sie wirklich stattgefunden haben oder ob es sich lediglich um Fragmente von Albträumen handelt, die in der falschen Gedächtnisablage landeten.
Doch alle Waggons dieses Zuges haben Türen, die von Männern in ungewohnten Uniformen bewacht werden, und Fenster, die von innen mit Jalousien oder schweren Vorhängen verhüllt sind. Die Gestapo-Leute führen ihn zu einem Waggon, ohne aus dem Schritt zu fallen, und schon ist er drin, einfach so. Und er ist allein. Niemand überprüft seine Papiere und die Gestapo-Leute bleiben draußen. Die Tür wird hinter ihm geschlossen.
Dr. Rudolf von Hacklheber steht in einem langen, schmalen Waggon, der wie der Empfangsraum eines Luxusbordells eingerichtet ist: persische Läufer auf dem gebohnerten Hartholzboden, schwere, mit rötlichbraunem Samt bezogene Möbel und Vorhänge, so dick, dass sie kugelsicher aussehen. An einem Ende des Waggons macht sich ein Dienstmädchen an einem Tisch zu schaffen, der zum Frühstück gedeckt ist: Brötchen, Fleisch- und Käsescheiben und Kaffee. Rudis Nase verrät ihm, dass es echter Kaffee ist, und der Duft lockt ihn hinüber ans Ende des Waggons. Das Mädchen gießt ihm mit zitternden Händen eine Tasse ein. Sie hat sich Grundierungscreme dick unter die Augen gekleistert, um dunkle Ringe zu kaschieren, und sie hat sich (wie er bemerkt, als sie ihm die Tasse reicht) auch die Handgelenke damit bestrichen.
Rudi genießt den Kaffee, rührt mit einem goldenen Löffel, der das Wappen einer französischen Familie trägt, Sahne hinein. Er schlendert an den Wänden des Waggons entlang und bewundert die dort aufgehängten Kunstwerke: eine Reihe Dürer-Radierungen und, sofern seine Augen ihn nicht trügen, ein paar Seiten aus einem Codex von Leonardo da Vinci.
Wieder geht die Tür auf und ein Mann kommt unbeholfen, wie in den Waggon geschleudert, hereingestolpert und plumpst auf ein Sofa. Als Rudi ihn erkennt, hat sich der Zug bereits in Bewegung gesetzt.
»Angelo!« Rudi stellt seinen Kaffee auf einem Beistelltisch ab und wirft sich in die Arme seines Geliebten.
Angelo erwidert die Umarmung schwächlich. Er stinkt und er zittert heftig. Er trägt ein grobes, schmutziges, pyjamaartiges Kleidungsstück und ist in eine graue Wolldecke gehüllt. Um seine Handgelenke ziehen sich halb verschorfte, in gelbgrün verfärbte Quetschungen eingebettete Schnittwunden.
»Mach dir deswegen keine Sorgen, Rudi«, sagt Angelo und ballt und öffnet die Fäuste, um zu demonstrieren, dass sie noch funktionieren. »Sie waren nicht nett zu mir, aber mit meinen Händen waren sie vorsichtig.«
»Kannst du noch fliegen?«
»Ich kann noch fliegen. Aber das ist nicht der Grund, warum sie mit meinen Händen vorsichtig waren.«
»Wieso dann?«
»Ohne Hände kann man kein Geständnis unterschreiben.«
Rudi und Angelo schauen einander in die Augen. Angelo wirkt traurig, erschöpft, strahlt aber immer noch so etwas wie heitere Würde aus. Wie ein Priester bei der Taufe, der sich anschickt, das Kind entgegenzunehmen, hebt er die Hände. Sein Mund formt stumm die Worte: Aber fliegen kann ich noch!
Ein Diener bringt eine Garnitur Kleider. Angelo säubert sich in einem der Waschräume. Rudi versucht, zwischen den Vorhängen hindurchzuspähen, aber man hat schwere Jalousien vor den Fenstern heruntergezogen. Sie frühstücken zusammen, während sich der Zug – vielleicht, um zerstörte Streckenabschnitte zu umfahren – durch die Rangierbahnhöfe Groß-Berlins manövriert und schließlich, im offenen Gelände dahinter, Fahrt aufnimmt.
Durch den Waggon kommt Reichsmarschall Hermann Göring, auf dem Weg in den hinteren Zugteil, wo sich der prunkvollste Wagen befindet. Sein Körper ist ungefähr so massig wie der Rumpf eines Torpedobootes, gehüllt in ein chinesisches Seidengewand von Zirkuszeltgröße, dessen Schärpe auf dem Boden hinter ihm nachschleift wie eine Leine hinter einem Hund. Er hat den dicksten Bauch, den Rudi
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