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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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je bei einem Menschen gesehen hat, und dieser Bauch ist mit goldenem Haar bedeckt, das sich an der Unterseite der Wölbung verdunkelt und schließlich zu einem bräunlichen Dickicht wird, das die Genitalien vollständig verbirgt. Er hat sichtlich nicht damit gerechnet, hier zwei Männer beim Frühstück sitzen zu sehen, scheint Rudis und Angelos Anwesenheit jedoch für eine der kleinen Absonderlichkeiten des Lebens zu halten, die man am besten nicht zur Kenntnis nimmt. Angesichts der Tatsache, dass Göring die Nummer zwei des Dritten Reiches – der designierte Nachfolger Hitlers – ist, müssten Rudi und Angelo eigentlich aufspringen, Haltung annehmen und ihn mit »Heil Hitler!« grüßen. Aber sie sind wie vom Donner gerührt. Göring wankt durch die Mitte des Waggons und beachtet sie nicht weiter. Auf halbem Weg beginnt er zu reden, aber er redet mit sich selbst und die Worte sind undeutlich. Er reißt die Tür am Ende des Waggons auf und geht weiter in den nächsten Wagen.
    Zwei Stunden später kommt, auf dem Weg zu Görings Waggon, ein Arzt in einem weißen Kittel vorbei, der ein mit einem weißen Leinentuch abgedecktes Silbertablett in der Hand trägt. Auf diesem sind, wie Kaviar mit Champagner geschmackvoll angeordnet, ein blaues Fläschchen und eine gläserne Injektionsspritze zu sehen.
    Eine halbe Stunde später kommt, einen Stoß Papiere unterm Arm, ein Adjutant in Luftwaffenuniform vorbei, der Rudi und Angelo mit einem schneidigen »Heil Hitler!« bedenkt.
    Wieder vergeht eine Stunde, dann werden Rudi und Angelo von einem Diener durch den Zug geleitet. Der Waggon am Ende ist dunkler und gediegener als der überladene Salonwagen, in dem sie gewartet haben. Er ist mit dunkel gemasertem Holz vertäfelt und enthält einen richtigen Schreibtisch – eine protzige, aus einer Tonne bayerischem Eichenholz geschnitzte Monstrosität. Im Augenblick besteht seine einzige Funktion darin, als Unterlage für ein einzelnes Blatt Papier – handgeschrieben und mit einer Unterschrift versehen – zu dienen. Selbst von weitem erkennt Rudi Angelos Handschrift.
    Sie müssen an dem Schreibtisch vorbeigehen, um zu Göring zu gelangen, der auf einer gleichermaßen wuchtigen Couch ausgestreckt liegt, unter einem Matisse und flankiert von römischen Büsten auf Marmorsockeln. Er trägt Reithosen aus rotem Leder, Stiefel aus rotem Leder, eine Uniformjacke aus rotem Leder und eine Reitpeitsche aus rotem Leder, in deren Knauf ein dicker Diamant eingelassen ist. Armreifgroße Goldringe mit dicken Rubinpusteln umschließen seine Wurstfinger. Auf seinem Kopf sitzt eine Offiziersmütze aus rotem Leder, über deren Schild ein goldener Totenkopf mit Rubinaugen prangt. Dies alles wird lediglich von ein paar Streifen staubigen Lichts beleuchtet, die durch winzige Spalten zwischen Vorhängen und Jalousien hereingefunden haben; mittlerweile ist die Sonne aufgegangen, doch Görings blaue Augen, vom Morphium zu münzgroßen Scheiben erweitert, können sie nicht ertragen. Er hat die kirschfarbenen Stiefel auf eine Ottomane gelegt; bestimmt hat er Durchblutungsstörungen in den Beinen. Er trinkt Tee aus einer fingerhutgroßen, mit Blattgold überzogenen Teetasse, die irgendwo aus einem Schloss geklaut worden ist. Schweres Eau de Cologne vermag seinen Geruch nicht zu überdecken: schlechte Zähne, Verdauungsprobleme und nekrotisierende Hämorrhoiden.
    »Guten Morgen, meine Herren«, sagt er heiter. »Tut mir Leid, dass ich Sie habe warten lassen. Heil Hitler! Möchten Sie Tee?«
    Es folgt oberflächliche Konversation. Sie zieht sich in die Länge. Göring ist fasziniert von Angelos Arbeit als Testpilot. Überdies hat er eine Vielzahl absonderlicher, von den bayerischen Illuminaten übernommener Vorstellungen und sucht nach irgendeiner Möglichkeit, sie mit der höheren Mathematik in Einklang zu bringen. Eine Zeit lang befürchtet Rudi, dass man ihm diese Aufgabe aufbürden wird. Aber selbst Göring scheint von dieser Phase des Gesprächs gelangweilt. Ein-, zweimal langt er mit seiner Reitpeitsche nach einem Fenster und teilt leicht einen Vorhang. Das Tageslicht scheint ihm entsetzliche Qualen zu bereiten und er wendet rasch den Blick ab.
    Schließlich bremst der Zug ab, schiebt sich durch einige Weichen und kommt sanft zum Stehen. Sie können natürlich nichts sehen. Rudi strengt seine Ohren an und meint, um sie herum geschäftiges Treiben zu hören: das Marschieren vieler Füße, gebrüllte Kommandos. Göring fängt den Blick eines Adjutanten auf

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