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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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und wedelt mit seiner Reitpeitsche Richtung Schreibtisch. Der Adjutant macht einen Satz vorwärts, grapscht das handgeschriebene Dokument und trägt es zum Reichsmarschall, dem er es mit einer kleinen, zackigen Verbeugung präsentiert. Göring liest es rasch durch. Dann blickt er zu Rudi und Angelo auf, gibt tadelnde Geräusche von sich und schüttelt dabei den riesigen Kopf. Diverse Schichten von Hängebacken, Falten und Kehllappen folgen, stets um ein paar Grad phasenverschoben. »Homosexualität«, sagt Göring. »Sie kennen doch die Politik des Führers im Hinblick auf ein solches Verhalten.« Er hebt das Blatt hoch und schüttelt es. »Schämen Sie sich! Sie beide. Ein Testpilot, der Gast in unserem Lande ist, und ein hervorragender Mathematiker, der mit bedeutenden Geheimnissen zu tun hat. Sie müssen doch gewusst haben, dass der Sicherheitsdienst davon Wind bekommt.« Er stößt einen erschöpften Seufzer aus. »Wie biege ich das nur wieder hin?«
    Als Göring das sagt, weiß Rudi zum ersten Mal seit dem Klopfen an seiner Tür, dass er an diesem Tag nicht sterben wird. Göring hat etwas anderes im Sinn.
    Aber zuerst muss er seinen Opfern gründlich Angst einjagen. »Wissen Sie, was Ihnen passieren könnte? Hmm? Wissen Sie’s?«
    Weder Rudi noch Angelo gibt Antwort. Solche Fragen erfordern im Grunde auch keine Antwort.
    Göring beantwortet sie an ihrer Stelle, indem er mit der Reitpeitsche den Vorhang anhebt. Grelles blaues Licht, vom Schnee reflektiert, strömt in den Wagen. Göring schließt die Augen und wendet das Gesicht ab.
    Sie befinden sich in der Mitte eines offenen, von hohen Stacheldrahtzäunen umgebenen Geländes, auf dem lange Reihen dunkler Baracken stehen. In der Mitte bläst ein hoher Schornstein Rauch in den weißen Himmel. SS-Leute in Mänteln und Reitstiefeln gehen umher und pusten sich in die Hände. Nur wenige Meter von ihnen entfernt, auf einem Nebengleis, ist ein Trupp Elendsgestalten in gestreifter Kleidung in und um einen Güterwaggon damit beschäftigt, dessen fahle Fracht zu entladen. Eine Vielzahl nackter menschlicher Leiber sind in dem Güterwaggon zu einer festen, wirren Masse zusammengefroren und die Gefangenen nehmen sie mit Äxten, Handsägen und Stemmeisen auseinander und werfen die Teile auf den Boden. Weil sie steif gefroren sind, fließt kein Blut, sodass die ganze Operation verblüffend sauber verläuft. Die doppelt verglasten Scheiben von Görings Waggon sind derart schalldicht, dass der Aufschlag einer großen Feueraxt auf einen gefrorenen Rumpf nur als fast nicht wahrzunehmendes Pochen hindurchdringt.
    Einer der Gefangenen wendet sich ihnen zu, während er einen Oberschenkel zu einer Schubkarre trägt, und riskiert einen direkten Blick auf den Zug des Reichsmarschalls. An die Brust seiner Kluft ist ein rosa Winkel angenäht. Sein Blick versucht, das Fenster zu durchdringen, an dem Vorhang vorbei einen menschlichen Kontakt zu jemandem im Waggon herzustellen. Rudi erstarrt einen Moment lang in panischer Angst, weil er meint, der Gefangene sieht ihn. Dann zieht Göring die Reitpeitsche zurück und der Vorhang fällt. Wenig später setzt sich der Zug wieder in Bewegung.
    Rudi sieht seinen Liebsten an. Angelo ist völlig erstarrt, wie eine jener Leichen, und hat die Hände vors Gesicht geschlagen.
    Göring macht einen wegwerfenden Schlenker mit der Peitsche. »Raus«, sagt er.
    »Was?«, fragen Rudi und Angelo gleichzeitig.
    Göring lacht laut und herzlich. »Nein, nein! Ich meine nicht, raus aus dem Zug. Sie, Angelo, sollen den Wagen verlassen. Ich möchte unter vier Augen mit Herrn Professor Hacklheber reden. Sie können solange im Salonwagen warten.«
    Angelo geht hastig. Mit der Peitsche macht Göring einen kurzen Schlenker zu zwei herumstehenden Adjutanten hin und sie gehen ebenfalls hinaus. Göring und Rudi sind miteinander allein.
    »Tut mir Leid, dass ich Ihnen diese unerfreulichen Dinge zeigen musste«, sagt Göring. »Aber ich wollte Ihnen einfach deutlich machen, wie wichtig es ist, Geheimnisse zu wahren.«
    »Ich kann dem Herrn Reichsmarschall versichern, dass -«
    Göring bringt ihn mit einem Schlenker der Reitpeitsche zum Schweigen. »Werden Sie nicht langweilig. Ich weiß, dass Sie jede Menge bedeutender Eide geschworen und sämtliche Belehrungen über Geheimhaltung mitgemacht haben. Ich zweifle nicht an Ihrer Aufrichtigkeit. Aber das sind alles bloß Worte, und das reicht nicht für die Arbeit, die Sie für mich in Angriff nehmen sollen. Um für mich zu

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