Cryptonomicon
dem sich ein riesiger Turm mit jeder Menge Plunder erhebt: Fliegerabwehrkanonen, Antennen, Ständer, Sicherheitsleinen, Gischtabweiser. Die Krauts würden auch Kuckucksuhren dort oben anbringen, wenn dafür Platz wäre. Wenn ein reguläres Unterseeboot durch die Wellen pflügt, speien seine Dieselmaschinen dicken schwarzen Rauch aus.
Das Boot hier ist bloß ein Torpedo, so lang wie ein Football-Feld. Anstelle eines Turms hat es oben einen stromlinienförmigen, kaum bemerkbaren Buckel. Keine Kanonen, keine Antennen, keine Kuckucksuhren; das ganze Ding ist so glatt wie ein Flusskiesel. Und es gibt weder Rauch noch Lärm von sich, sondern verströmt nur ein klein wenig Dampf. Die Dieselmaschinen rumpeln nicht. Das Ding scheint überhaupt keine Dieselmaschinen zu haben. Stattdessen ist ein dünnes Jaulen zu hören, wie das Geräusch, das aus Angelos Messerschmitt kam.
Shaftoe fängt Bischoff ab, als dieser gerade die Wirtshaustreppe herunterkommt, in den Armen einen Seesack von der Größe eines toten Walrosses. Er keucht vor Anstrengung, vielleicht auch Erregung. »Das ist es«, japst er. Er hört sich an, als rede er mit sich selbst, aber er spricht Englisch, also richten sich seine Worte wohl an Shaftoe. »Das ist die Rakete.«
»Rakete?«
»Läuft mit Raketentreibstoff – Wasserstoffperoxid, fünfundachtzig Prozent. Muss nie seine verdammten Batterien aufladen! Macht achtundzwanzig Knoten – und zwar getaucht! Ein prima Boot.« Er säuselt wie Julieta.
»Kann ich dir irgendwas tragen helfen?«
»Spind – oben im Zimmer«, sagt Bischoff.
Shaftoe stampft die schmale Treppe hinauf und findet Bischoffs Zimmer bis auf die Bettfedern geräumt und auf dem Tisch einen Stapel Goldmünzen, der als Briefbeschwerer für einen Dankesbrief an die Besitzer dient. Der schwarze Spind liegt wie ein Kindersarg mitten auf dem Fußboden. Durchs offene Fenster schlägt ein wildes Gebrüll an Shaftoes Ohr.
Dort unten marschiert Bischoff unter der Last seines Seesacks auf die Pier zu und seine Leute auf der Rakete haben ihn gesehen. Auf dem Unterseeboot hat man ein Dingi zu Wasser gelassen, das wie ein Skullboot übers Wasser saust.
Shaftoe hievt sich den Spind auf die Schulter und trottet die Treppe hinunter. Das erinnert ihn ans Einschiffen, etwas, was der Bestimmung von Marines entspricht und was er schon lange nicht mehr getan hat. Nachempfundene Erregung, findet er, ist nicht so gut, wie wenn man es selbst mitmacht.
Durch eine dünne Schneeschicht folgt er Bischoffs Spuren die gepflasterte Straße hinunter auf die Pier. Drei Männer in Schwarz kraxeln aus dem Beiboot die Leiter herauf auf die Pier. Sie grüßen Bischoff, dann umarmen ihn zwei davon. Shaftoe ist so nahe und das lachsfarbene Licht ist so hell, dass er die beiden erkennt: Angehörige von Bischoffs alter Mannschaft. Der dritte ist größer, älter, hagerer, grimmiger, besser gekleidet, höher dekoriert. Alles in allem eher ein Nazi.
Shaftoe kann es nicht fassen. Als er den Spind lüpfte, war das lediglich eine Aufmerksamkeit gegenüber seinem Freund Günter – einem tintenfleckigen Pensionär mit pazifistischen Neigungen. Nun leistet er ganz plötzlich dem Feind Beihilfe! Was würden seine Kameraden bei den Marines von ihm halten, wenn sie das wüssten?
Ach ja, richtig. Fast hätte er’s vergessen. Er ist ja an der Verschwörung beteiligt, die er, Bischoff, Rudi von Hacklheber und Enoch Root im Keller dieser Kirche ausgeheckt haben. Er bleibt wie angewurzelt stehen und knallt den Spind mitten auf der Pier auf den Boden. Der Nazi schreckt von dem Geräusch zusammen und hebt seine blauen Augen Richtung Shaftoe, der wild entschlossen ist, dem Blick standzuhalten.
Bischoff bemerkt das. Er wendet sich Shaftoe zu und ruft etwas Fröhliches auf Schwedisch. Shaftoe besitzt die Geistesgegenwart, den Blickkontakt mit dem frostigen Deutschen abzubrechen. Er grinst und antwortet mit einem Nicken. Diese Verschwörungsgeschichte wird ihm gewaltig auf den Wecker gehen, wenn sie darauf hinausläuft, dass man sich vor jeder Keilerei drücken muss.
Mittlerweile sind zwei Seeleute die Leiter heraufgestiegen und kümmern sich um Bischoffs Gepäck. Einer von ihnen marschiert die Pier entlang, um den Spind zu holen. Shaftoe und er erkennen einander im selben Moment. Verdammt! Der Bursche ist überrascht, aber nicht unangenehm überrascht, Shaftoe hier zu sehen. Dann fällt ihm etwas ein, sein Gesicht erstarrt entsetzt und sein Blick huscht zur Seite, zu dem hochgewachsenen
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