Cryptonomicon
GPS-Empfängerkarte in meinem Laptop: 27 Grad, 14,95 Minuten nördlicher Breite, 143 Grad, 17,44 Minuten östlicher Länge. Nächster geographischer Orientierungspunkt: die Bonin-Inseln.
Rakete
Julieta hat sich bis weit hinter den nördlichen Polarkreis zurückgezogen. Shaftoe hat ihr nachgestellt wie ein zäher Mountie, hat sich auf zerfransten Schneeschuhen über die sexuelle Tundra geschleppt und ist heldenhaft von Eisscholle zu Eisscholle gesprungen. Doch sie bleibt ungefähr so fern und unerreichbar wie der Nordstern. In letzter Zeit verbringt sie mehr Zeit mit Enoch Root als mit ihm – dabei ist Root doch Priester und zum Zölibat verpflichtet. Oder etwa nicht?!
Bei den wenigen Malen, wo Bobby Shaftoe sie tatsächlich dazu gebracht hat zu lächeln, hat sie sofort angefangen, schwierige Fragen zu stellen: Hast du mit Glory geschlafen, Bobby? Hast du ein Kondom benutzt? Könnte sie schwanger geworden sein? Kannst du mit absoluter Sicherheit ausschließen, dass du auf den Philippinen ein Kind hast? Wie alt wäre dieses Kind jetzt? Mal sehen, gevögelt hast du sie am Tag des Angriffs auf Pearl Harbor, das Kind wäre also Anfang September 42 auf die Welt gekommen. Dein Kind wäre jetzt vierzehn, fünfzehn Monate alt – und würde vielleicht gerade laufen lernen! Wie süß!
Shaftoe kriegt jedes Mal Zustände, wenn knallharte Frauen wie Julieta in Gesäusel und Babysprache verfallen. Zunächst nimmt er an, es handle sich um eine List, um ihn sich vom Leib zu halten. Diese Schmugglernichte, diese atheistische Partisanenintellektuelle – was liegt ihr an irgendeiner Frau in Manila? Reiß dich zusammen, Weib! Wir befinden uns im Krieg!
Dann fällt ihm eine bessere Erklärung ein: Julieta ist schwanger.
Der Tag beginnt mit dem Dröhnen einer Schiffsirene im Hafen von Norrsbruck. Die Stadt ist ein Gewirr schmucker, breiter Häuser, zusammengedrängt auf einem Felssporn, der in den Bottnischen Meerbusen hineinragt und das Südufer eines schmalen, aber tiefen, von Kaianlagen gesäumten Meeresarms bildet. Unter einem beunruhigenden, wild bewegten, pfirsich- und lachsfarbenen Morgenhimmel erscheint nun die halbe Einwohnerschaft, um mitanzusehen, wie dieser wunderliche Hafen von einem unaufhaltsamen Stahlphallus defloriert wird. Sogar mit Spirochäten ist er behaftet:Einige Dutzend Männer in schwarzen Ausgehuniformen stehen auf dem Ding, so akkurat ausgerichtet wie Pfosten. Als das zwischen den steinernen Hängen hin und her geworfene Dröhnen verklingt, kann man die Spirochäten singen hören: Sie grölen ein derbes deutsches Seemannslied, das Bobby Shaftoe zuletzt während eines Angriffs auf einen Geleitzug im Golf von Biscaya gehört hat.
Noch zwei andere Menschen in Norrsbruck werden die Melodie erkennen. Shaftoe sucht Enoch Root in dessen Kirchenkeller, aber er ist nicht da und Bett und Lampe sind kalt. Vielleicht hält der Ortsverein der Societas Eruditorum seine Versammlungen vor Morgengrauen ab – vielleicht hat Enoch Root aber auch Unterschlupf in einem anderen Bett gefunden. Den getreuen alten Günter Bischoff dagegen kann man sehen, wie er sich zum Fenster seiner Mansarde mit Meeresblick herausbeugt und, die Ellbogen abgespreizt und sein getreues Zeiss 735 vor dem Gesicht, den Blick über die Konturen des eindringenden Schiffs wandern lässt.
Die Schweden stehen eine Zeit lang mit verschränkten Armen da und betrachten die Erscheinung. Dann treffen sie so etwas wie eine kollektive Entscheidung, dass das Ding nicht existiert, dass hier nichts vorgefallen ist. Sie kehren der Szene den Rücken, tappen mürrisch in ihre Häuser zurück, setzen Kaffeewasser auf. Neutral zu sein ist nicht weniger seltsam, nicht weniger mit schwierigen Kompromissen behaftet, als Krieg zu führen. Im Gegensatz zu den meisten Europäern können sie sicher sein, dass die Deutschen nicht hier sind, um bei ihnen einzumarschieren oder ihre Schiffe zu versenken. Andererseits stellt die Anwesenheit des Schiffes eine Verletzung ihres souveränen Territoriums dar, sodass sie eigentlich mit Mistgabeln und Vorderladern hinrennen und die Hunnen vertreiben müssten. Wiederum andererseits wurde das Boot vermutlich aus Schwedenstahl hergestellt.
Shaftoe erkennt das deutsche Schiff zunächst nicht als Unterseeboot, weil es ganz falsch geformt ist. Ein reguläres Unterseeboot ist geformt wie ein Überwasserschiff, nur länger und schmaler. Das heißt, es hat einen ungefähr V-förmigen Rumpf und ein flaches, mit Geschützen gespicktes Deck, auf
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