Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
wenn dann irgendetwas Praktisches anstand, war sie vollkommen hilflos und war es vermutlich auch immer gewesen. Bis sie aus Altersgründen nicht mehr fahren konnte, war sie noch mit dem 1965er Lincoln Continental, dem letzten Gefährt, das ihr Mann vor seinem frühen Tod bei der örtlichen Niederlassung von Patterson Lincoln-Mercury gekauft hatte, in Whitman herumgegondelt. Das Ding wog so ungefähr sechstausend Pfund und hatte mehr bewegliche Teile als ein ganzes Silo voller Schweizer Uhren. Immer wenn eins ihrer Kinder zu Besuch kam, schlüpfte jemand heimlich hinaus in die Garage, um den Ölmessstab herauszuziehen, dessen Ende auf wundersame Weise immer mit klarem bernsteinfarbenem 10W40 überzogen war. Schließlich stellte sich heraus, dass ihr verstorbener Gatte die gesamte noch lebende männliche Linie der Familie Patterson – das waren vier Generationen – in sein Krankenzimmer beordert, sie um sein Totenbett versammelt und eine Art nicht näher bezeichneten Pakt mit ihnen geschlossen hatte, der in etwa besagte, dass, falls zu irgendeinem künftigen Zeitpunkt der Reifendruck bei dem Lincoln unter den Normwert sinken oder die Wartung anderweitig zu wünschen übrig lassen sollte, sämtliche Pattersons nicht nur ihre unsterblichen Seelen verwirkt hätten, sondern buchstäblich aus Versammlungen und Toiletten herausgezerrt und wie Marlowes Doktor Faustus auf der Stelle in die Hölle gestoßen würden. Er wusste, dass seine Frau nur eine äußerst vage Vorstellung davon hatte, was ein Reifen war, außer dass ein Mann deswegen von Zeit zu Zeit wie ein Held aus dem Auto springen musste, um ihn zu wechseln, während sie im Auto sitzen blieb und ihn bewunderte. Man hatte den Eindruck, die Welt der physikalischen Objekte sei einzig zu dem Zweck geschaffen worden, den Männern um Grandma herum etwas zu geben, was sie mit ihren Händen tun konnten; allerdings nicht, wie man meinen könnte, aus irgendeinem praktischen Grund, sondern nur, damit Grandma an den emotionalen Knöpfen dieser Männer herumspielen konnte, indem sie darauf reagierte, wie gut oder wie schlecht sie es machten. Was prima funktionierte, solange tatsächlich Männer da waren, aber nicht mehr so gut, nachdem Grandpa gestorben war. Deshalb hatten Guerilla-Mechanikerteams Randys Großmutter seitdem ständig beobachtet und von Zeit zu Zeit ihren Lincoln vom Kirchenparkplatz entführt, um unter dem Siegel der Verschwiegenheit bei Patterson Ölwechsel vorzunehmen. Die Fähigkeit des Lincoln, ein Vierteljahrhundert lang ohne Wartung – ja sogar ohne weitere Tankfüllungen – einwandfrei zu laufen, hatte nur Großmutters Ansichten über die ergötzliche Überflüssigkeit männlicher Beschäftigungen bestätigt.
    Letztlich lief es darauf hinaus, dass Grandma, deren Verständnis für das Praktische mit fortgeschrittenem Alter (sofern überhaupt möglich) nur noch abgenommen hatte, nicht der Mensch war, den man um Informationen über das, was ihr verstorbener Mann im Krieg gemacht hatte, angehen würde. Die Nazis zu besiegen gehörte für sie in dieselbe Kategorie wie Reifenwechseln: ein schmutziges Geschäft, das zu beherrschen von Männern verlangt wurde. Und das galt nicht nur für die Männer von einst, die Supermänner ihrer Generation; von Randy wurde genauso verlangt, sich mit diesen Dingen auszukennen. Käme morgen die Achse wieder zustande, würde Grandma von Randy erwarten, dass er am darauf folgenden Tag in voller Montur im Cockpit eines Überschallkampfflugzeugs säße. Und Randy würde sich lieber mit Mach 2 in den Boden bohren als ihre Bemerkung ertragen, er sei dem Job eben nicht gewachsen.
    Zum Glück für Randy, der vor kurzem ein besonderes Interesse an Grandpa entwickelt hat, ist ein alter Koffer ausgegraben worden. Ein Ding aus Rattan und Leder, eine schicke Angelegenheit aus den Roaring Twenties, komplett mit ein paar mehr oder minder abgeschabten Hotelaufklebern, die Lawrence Pritchard Waterhouses Wanderung vom Mittelwesten nach Princeton und zurück nachzeichnen – randvoll mit kleinen Schwarzweißfotos. Randys Vater kippt den Inhalt auf eine Tischtennisplatte, die aus unerfindlichen Gründen mitten im Aufenthaltsraum von Grandmas Altenpflegeheim steht, dessen Insassen mit etwa derselben Wahrscheinlichkeit Tischtennis spielen, wie sie sich die Brustwarzen piercen lassen würden. Die Fotos werden wahllos in mehrere getrennte Stapel aufgeteilt, die dann von Randy, seinem Vater, seinen Tanten und Onkeln sortiert werden. Die meisten sind

Weitere Kostenlose Bücher