Cryptonomicon
in das Einkaufszentrum. Amy wundert sich immer noch laut darüber, warum sie hier sind, folgt ihm aber. Randy ist erst noch ein bisschen unschlüssig, doch dann steuert er automatisch auf eine gedämpft herüber dringende elektronische Kakophonie – digitalisierte Stimmen, die Krieg prophezeien – zu und taucht in die Lebensmittelabteilung ein. Nachdem er sich teils am Klang, teils am Geruch orientiert hat, erreicht er die Ecke, in der eine Menge männlicher Wesen im Alter von vielleicht zehn bis vierzig Jahren in kleinen Grüppchen zusammensitzen, von denen manche wabbelnde Portionen eines chinesischen Gerichts aus kleinen weißen Schachteln hervorziehen, die meisten jedoch auf etwas fixiert sind, was aus der Ferne wie eine Art Papierkram aussieht. Als Hintergrund spuckt der ultraviolette Schlund einer riesigen Spielepassage digitalisierte und klangtechnisch abgemilderte Detonationen, Zischgeräusche, Düsenknalle und die Fürze einer Gatling-Gun. Die Passage scheint allerdings nichts anderes mehr als ein Orientierungspunkt zu sein, um den herum sich dieser intensive Kult von Zettel-Hobbyisten gebildet hat. Ein drahtiger Teenager in engen schwarzen Jeans und einem schwarzen T-Shirt, der sich eine lange dünne Schachtel wie ein Gewehr umgehängt hat, streicht mit der provozierenden Selbstsicherheit eines illegalen Buchmachers zwischen den Tischen umher. »Die hier ist meine ethnische Volksgruppe«, erklärt Randy als Antwort auf Amys Gesichtsausdruck. »Fantasy-Rollenspiel-Freaks. Das sind Avi und ich vor zehn Jahren.«
»Die sehen aus, als spielen sie Karten.« Amy hat immer noch diesen Ausdruck im Gesicht und rümpft die Nase. »Sonderbare Karten.« Amy platzt neugierig mitten in ein Spiel zwischen vier Nerds . Nahezu überall sonst würde das Auftauchen einer Frau mit einer erkennbaren Taille in irgendeiner Weise Aufsehen erregen. Zumindest würden unanständige Blicke an ihrem Körper auf und ab wandern. Diese Typen hier haben jedoch nur eins im Kopf: die Karten in ihren Händen, von denen jede in einer Plastikhülle steckt, damit sie in tadellosem Zustand bleibt, und mit dem Bild eines Trolls oder Zauberers oder eines anderen Blattes vom post-tolkienschen Evolutionsbaum geschmückt und auf der Rückseite mit komplizierten Regeln bedruckt ist. Geistig befinden sich diese Burschen nicht in einem Einkaufszentrum an der East Side von Groß-Seattle, sondern auf einem Gebirgspass, wo sie versuchen, sich gegenseitig mit scharfen Waffen und spirituellem Feuer umzubringen.
Der junge Buchmacher schätzt Randy als potentiellen Kunden ein. Seine Schachtel ist lang genug, um ein paar hundert Karten zu enthalten, und sie sieht schwer aus. Randy würde es nicht wundern, etwas Deprimierendes über diesen jungen Kerl zu erfahren, zum Beispiel, dass er durch das günstige An- und teure Verkaufen von Karten so viel Geld verdient, dass er einen brandneuen Lexus besitzt, den er noch gar nicht fahren darf. Randy fängt seinen Blick auf und fragt: »Chester?«
»Toilette.«
Randy setzt sich hin und beobachtet Amy, die den Freaks bei ihrem Spiel zusieht. Schon in Whitman, draußen auf dem Parkplatz, hatte er gedacht, das wäre jetzt der Abschuss und sie würde sicher Angst bekommen und die Flucht ergreifen. Aber das hier ist potentiell schlimmer. Ein Haufen dicklicher Burschen, die nie an die Luft gehen und sich in ausgetüftelte Spiele hineinsteigern, bei denen nicht existente Personen losziehen und Dinge zu tun vorgeben, die zum größten Teil nicht so interessant sind wie das, was Amy, ihr Vater und verschiedene andere Mitglieder ihrer Familie ständig tun, ohne irgendwelches Aufhebens davon zu machen. Fast ist es, als würde Randy sie ganz bewusst Zumutungen aussetzen und den Punkt herauszufinden versuchen, an dem sie aufgibt und davonläuft. Doch noch haben ihre Lippen nicht begonnen, sich vor Abscheu zu kräuseln. Unbefangen beobachtet sie das Spiel, späht den Nerds über die Schultern, verfolgt die Handlung und blinzelt hier und da bei einer zu abstrakten Regel.
»Hey, Randy.«
»Hey, Chester.«
Chester ist also von der Toilette zurück. Er sieht genau so aus wie früher, nur wie die klassische Demonstration der Theorie vom sich ausbreitenden Universum, bei der ein Gesicht oder irgendein anderes Motiv auf einen halb aufgeblasenen Ballon gemalt und der dann weiter aufgeblasen wird. Die Poren haben sich geweitet und die einzelnen Haare sind auseinander gerückt, was den Eindruck drohender Glatzköpfigkeit erweckt. Es hat
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