Cryptonomicon
den Anschein, als hätten selbst seine Augen sich voneinander entfernt und die Farbtupfer in den Iriden sich zu Flecken ausgewachsen. Dick ist er eigentlich nicht – er hat noch dieselbe zerzauste Stämmigkeit wie früher. Da die Menschen ab Anfang zwanzig nicht mehr wachsen, muss das eine Täuschung sein. Ältere Leute scheinen einfach mehr Raum einzunehmen. Oder sehen mehr.
»Wie geht’s Avidus?«
»Gierig wie eh und je«, erwidert Randy, geistlos, aber obligatorisch. Chester trägt eine Art Fotografenweste mit einer unnötig großen Anzahl kleiner Taschen, die alle mit Spielkarten voll gestopft sind. Vielleicht wirkt er deshalb so dick. Er trägt ungefähr zwanzig Pfund Karten am Leib. »Ich stelle fest, dass ihr zu kartengestützten Rollenspielen übergegangen seid«, sagt Randy.
»Ja! Das ist viel besser als die alten mit Papier und Bleistift. Und sogar als die computervermittelten Rollenspiele, bei allem Respekt vor der tollen Arbeit, die du und Avi geleistet habt. Woran arbeitet ihr denn jetzt gerade?«
»Etwas, was vielleicht damit zu tun haben könnte«, sagt Randy. »Mir ist gerade klar geworden, dass man, wenn man eine Reihe kryptographischer Protokolle hat, die zur Ausgabe einer fälschungssicheren Währung geeignet sind – und die haben wir seltsamerweise -, diese Protokolle auch auf Kartenspiele übertragen könnte. Jede dieser Karten ist ja wie eine Banknote. Manche sind mehr wert als andere.«
Chester nickt die ganze Zeit, unterbricht Randy aber nicht so ungehobelt, wie ein jüngerer Nerd es tun würde. Ein jüngerer Nerd ist schnell beleidigt, wenn jemand in seiner Nähe Aussagesätze formuliert, denn daraus hört er die Behauptung heraus, er, der Nerd , kenne die mitgeteilte Information noch nicht. Der ältere Nerd hingegen besitzt mehr Selbstvertrauen und hat im Übrigen Verständnis dafür, dass Leute oft laut denken müssen. Und sehr hoch entwickelte Nerds begreifen darüber hinaus, dass das Formulieren von Aussagesätzen, deren Inhalt allen Anwesenden bereits bekannt ist, zum sozialen Vorgang des Konversation-Treibens gehört und unter keinen Umständen als Aggression betrachtet werden darf. »Das gibt es schon«, sagt Chester, als Randy fertig ist. »Um genau zu sein, die Firma, für die du und Avi in Minneapolis gearbeitet habt, gehört zu den führenden-«
»Ich möchte Ihnen meinen Freund vorstellen, Amy«, unterbricht Randy, obwohl Amy ein gutes Stück entfernt steht und gar nicht hinhört. Aber Randy fürchtet, Chester könnte ihm gleich erzählen, dass die Aktie dieser Firma in Minneapolis jetzt eine Höhe erreicht hat, bei der ihre Marktkapitalisierung die von General Dynamics übersteigt und dass Randy seine Anteile hätte behalten sollen. »Amy, das ist mein Freund Chester«, sagt Randy und führt Chester zwischen den Tischen hindurch. Jetzt blicken einige der Spieler doch interessiert auf – nicht zu Amy, sondern zu Chester, der (so nimmt Randy an) vermutlich eine nur einmal vorkommende Karte in dieser Weste versteckt hat, wie DAS THERMONUKLEARE WAFFENARSENAL DER UNION DER SOZIA-LISTISCHEN SOWJETREPUBLIKEN oder YHWH. Chester zeigt eine deutliche Verbesserung seines Sozialverhaltens, indem er Amy ohne eine Spur von Unbeholfenheit die Hand schüttelt und in fließendem Übergang in die ziemlich anständige Imitation eines reifen, ausgeglichenen Individuums verfällt, das sich in höflichem Plauderton unterhält. Ehe Randy sich’s versieht, hat Chester sie zu sich nach Hause eingeladen.
»Ich habe gehört, es wäre noch nicht fertig«, sagt Randy.
»Du musst den Artikel im Economist gelesen haben«, erwidert Chester.
»Richtig.«
»Hättest du den in der NewYork Times gelesen, wüsstest du, dass der Artikel im Economist nicht der Wahrheit entspricht. Ich wohne jetzt im Haus.«
»Ich freue mich darauf, es zu sehen«, sagt Randy.
»Gemerkt, wie schön meine Straße gepflastert ist?«, fragt Chester eine halbe Stunde später säuerlich. Randy hat seinen verbeulten und verkratzten Acura auf dem Gästeparkplatz von Chesters Haus geparkt und Chester hat seinen 1932er Dusenberg Roadster in die Garage gefahren, zwischen einen Lamborghini und ein anderes Gefährt, das buchstäblich wie ein Flugzeug aussieht, gebaut, um auf Düsenfächern zu schweben.
»Äh, um ehrlich zu sein, nein«, antwortet Randy und versucht, nichts um ihn herum anzustarren. Sogar das Pflaster unter seinen Füßen sieht aus wie ein maßgefertigtes Mosaik im Penrose-Muster. »Ich erinnere mich
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