Cryptonomicon
viele japanische Soldaten sie umbringen müssen.
»Wo sind die letzten Arbeiter?«, ruft einer der Soldaten.
»In der Narrenkammer.«
Sie brauchen mehrere Minuten, um ihren Weg durch das Hauptgewölbe zu finden, weil es mit Kostbarkeiten voll gestopft ist. So muss der strahlende Kern einer Galaxie aussehen. Sie klettern den Schacht in der Decke hinauf und gehen weiter in die Ruhmeshalle. Goto Dengo findet die blanken Kabel, die zu der Glühbirne führen und befestigt sie an den Schraubklemmen einer Batterie. Da die Glühbirne die falsche Spannung bekommt, sieht sie aus wie eine in Tinte schwebende Mandarine.
»Schaltet die Stirnleuchten aus«, sagt Goto Dengo, »um Brennstoff zu sparen. Meine lasse ich an, falls es einen Stromausfall gibt.«
Er zupft eine Faust voll Watte aus einer sterilen Schachtel. Sie ist das Sauberste und Weißeste, was er seit Jahren gesehen hat. Er zerzupft sie zu kleineren Bäuschen, wie Pater Ferdinand, wenn er bei der Messe das Brot brach, und verteilt sie an die Soldaten, die sie sich mit rituellem Ernst in die Ohren stopfen. »Verschwenden wir keine Zeit mehr«, ruft er. »Hauptmann Noda wird da draußen bestimmt schon ungeduldig.«
»Herr Lieutenant!«, sagt einer der Männer, nimmt Haltung an und reicht ihm zwei Kabel, die mit SPRENGUNG HAUPTTUNNEL gekennzeichnet sind.
»Nun denn«, sagt Goto Dengo und schraubt die Kabel an den beiden Klemmen eines hölzernen Schaltkastens fest.
Ihm ist, als müsste er etwas Feierliches sagen, aber es fällt ihm nichts ein. Überall im Pazifik sterben Japaner, ohne zuvor noch große Reden halten zu können.
Er beißt die Zähne zusammen, schließt die Augen und dreht den Schaltgriff.
Die Schockwelle kommt als Erstes durch den Boden und schlägt wie eine hochschnellende Planke gegen ihre Fußsohlen. Gleich darauf kommt sie durch die Luft und trifft die Männer wie eine heransausende Steinmauer. Die Watte in den Ohren scheint nichts zu bewirken. Goto Dengo spürt, wie ihm die Augen aus den Höhlen springen. Seine Zähne fühlen sich allesamt so an, als wären sie mit kalten Meißeln am Zahnfleischrand abrasiert worden. Es presst ihm allen Atem aus den Lungen. Zum ersten Mal seit dem Moment seiner Geburt sind sie leer. Wie Neugeborene können er und die anderen Männer sich nur unter panischen Blicken hin und her winden, bis ihre Körper wieder lernen, Atem zu holen.
Einer hat eine Flasche Sake mitgebracht, die zerbrochen ist. Sie reichen den gezackten, unteren Teil der Flasche herum und jeder nimmt einen Schluck von dem, was noch übrig ist. Goto Dengo versucht, sich die Watte aus den Ohren zu nehmen, und stellt fest, dass die Schockwelle sie so tief hineingetrieben hat, dass sie sich nicht mehr herausziehen lässt. Also ruft er lediglich: »Uhrenvergleich.« Alles schaut auf die Uhr. »In zwei Stunden wird Hauptmann Noda den Pfropf auf dem Seegrund sprengen und die Wasserfallen fluten. Bis dahin ist noch einiges zu erledigen. Ihr wisst alle, was ihr zu tun habt – an die Arbeit!«
Alle machen hai, drehen sich auf dem Absatz um und gehen ihrer Wege. Es ist das erste Mal, dass Goto Dengo mit Bedacht Menschen in den Tod geschickt hat. Aber sie sind ohnehin allesamt tote Männer, und so weiß er nicht recht, was er empfinden soll.
Wenn er noch an den Kaiser glaubte – noch an den Krieg glaubte -, würde er sich nichts dabei denken. Aber dann würde er auch nicht tun, was zu tun er im Begriff steht.
Es ist wichtig, den Anschein zu wahren, als handele es sich um eine ganz normale Operation, und so steigt er zum Gewölbe hinab, um seine nächste vorgesehene Aufgabe zu erledigen: die Inspektion dessen, was einmal der Hauptschacht war. Das Gewölbe ist mit einem Nebel aus Steinstaub gefüllt, um den sich seine Luftröhre krampft wie eine Faust, die ein Seil packt. Seine Azetylenlampe lässt lediglich den Staub aufglimmen und verschafft ihm eine Sichtweite von vielleicht fünfzehn Zentimetern. Er kann nichts als die Goldbarren unmittelbar vor seinen Augen erkennen, denn sie schimmern trotz eines Staubund Rauchfilms. Die Schockwelle hat seine zuvor ordentlichen Kisten- und Barrenstapel umgeworfen und den ganzen Schatz in einen schlichten Hügel verwandelt, von dem immer noch Lawinen ausgehen, während er langsam zur Ruhe kommt. Ein 75-Kilogramm-Goldbarren, der wie ein durchgegangener Güterwagen den Goldberg hinabsaust, taucht unvermittelt aus der Staubwolke auf und Goto Dengo springt zur Seite. Von der rissigen Decke rieseln nach wie vor
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