Cryptonomicon
von den Lakaien des Dentisten gefunden oder ihre Bergungsarbeit irgendwie unterbrochen worden, würde sie etwas sagen. Dass sie nichts sagt, bedeutet, dass sie wahrscheinlich gerade in diesem Augenblick Gold aus dem Unterseeboot holen.
Gut. Sie ist also vollauf mit der Goldbergungsaktion beschäftigt, zu der sie sicherlich einen entscheidenden Beitrag leistet. Sie hat ihm absolut nichts Besonderes mitzuteilen. Warum aber hat sie dann die lange, abwechselnd öde und gefährliche Reise nach Manila angetreten? Um was genau zu tun? Wenn er doch bloß Gedanken lesen könnte! Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtet ihn lässig. Jemand versucht, Ihnen eine Botschaft zu schicken.
Plötzlich befällt ihn das Gefühl, dass sie ihn genau da hat, wo sie ihn haben will. Vielleicht war sie diejenige, die das Heroin in seine Tasche geschmuggelt hat. Eine reine Machtfrage, nichts anderes.
Ein großes Erinnerungsfragment taucht an die Oberfläche von Randys Bewusstsein wie eine von der polaren Eiskappe abgesprungene Eisscholle. Er und Amy und die Shaftoejungs waren in Kalifornien, unmittelbar nach dem Erdbeben, und durchforsteten den ganzen Schrott im Keller nach ein paar Kartons mit wichtigen Papieren. Randy hörte Amy vor Vergnügen quietschen und fand sie in der Ecke auf ein paar alten Bücherkisten sitzend und im Licht ihrer Taschenlampe ein Taschenbuch lesend. Sie hatte ein gewaltiges Lager mit Liebesromanen entdeckt, von denen Randy keinen einzigen je gesehen hatte. Schmachtfetzen der übelsten Sorte! Randy nahm an, dass die Vorbesitzer des Hauses sie dagelassen hatten, bis er ein paar von ihnen durchblätterte und sich die Erscheinungsdaten ansah: Alle aus den Jahren, als er und Charlene zusammenlebten. Charlene musste sie in einem Tempo von ungefähr einem Buch pro Woche gelesen haben.
»Mein lieber Mann«, sagte Amy und las ihm eine Passage über einen raubeinigen, aber sensiblen aber knallharten aber liebenden aber geilen aber klugen Helden vor, der sich an einer empörten, aber willigen aber sich sträubenden aber nachgiebigen stürmischen Schönen delektiert. »Mein Gott!« Sie pfefferte das Buch in eine Pfütze auf dem Kellerboden.
»Ich fand immer, dass sie mit ihrer Lektüre heimlichtuerisch umging.«
»Na ja, jetzt wissen Sie, was sie wollte«, sagte Amy. »Haben Sie ihr gegeben, was sie wollte, Randy?«
Und das hat Randy seither ständig beschäftigt. Als aber sein Erstaunen darüber, dass diese Schmachtfetzen für Charlene eine Art Sucht gewesen waren, sich gelegt hatte, stellte er fest, dass er es eigentlich gar nicht mal so schlimm fand, obwohl das Lesen solcher Bücher in ihren Kreisen gleichbedeutend war mit dem Tragen langer spitzer Hüte in den Straßen von Salem Village, Mass., um das Jahr 1692. Sie und Randy hatten sich schrecklich bemüht, eine Beziehung von gleichberechtigten Partnern herzustellen. Sie hatten Geld zu Beziehungsberatern getragen, um die Beziehung zwischen Gleichberechtigten am Leben zu erhalten. Aber Charlene war, ohne ihm je einen Grund dafür zu nennen, immer wütender geworden, und er immer verwirrter. Am Ende war er nicht mehr verwirrt, sondern nur noch gereizt und ihrer überdrüssig. Nachdem Amy diese Bücher im Keller gefunden hatte, entstand in Randys Kopf eine ganz neue und andere Geschichte: Charlenes limbisches System war einfach so gestrickt, dass sie dominante Männer mochte. Natürlich nicht im Sinne von Peitschen und Ketten, sondern in dem Sinn, dass in den meisten Beziehungen einer den aktiven und einer den passiven Part übernimmt, und das geschieht ohne erkennbare Logik, ist aber auch gar nicht schlimm. Letztlich kann der passive Partner genauso viel Macht haben und genauso viel Freiheit.
Intuition dauert wie ein Blitzstrahl nur eine Sekunde lang. Normalerweise stellt sie sich ein, wenn man sich mit einer schwierigen Entschlüsselung abquält und im Kopf die bereits angestellten fruchtlosen Versuche Revue passieren lässt. Plötzlich bricht das Licht durch und man findet nach wenigen Minuten, was die vergangenen Tage harter Arbeit nicht zu offenbaren vermochten.
Randy vermutet stark, dass Amy keine Schmachtfetzen liest. Bei ihr ist es eher umgekehrt. Sie kann es nicht ertragen, sich irgendjemandem auszuliefern. Was es ihr schwer macht, sich in der feinen Gesellschaft zu bewegen; sie wäre nicht glücklich geworden, hätte sie in ihrem letzten Jahr auf der High School zu Hause gesessen und darauf gewartet, dass ein Junge sie zum Schülerball
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