Cryptonomicon
er ihn mit den Offizieren im Landungsboot durchsprach, keinerlei Ähnlichkeit mit der Realität hat. Es ist nur ungefähr das fünftausendste Mal, dass Shaftoe dieses Phänomen im Laufe des Zweiten Weltkrieges erlebt; eigentlich müsste man meinen, dass es ihn nicht mehr überrascht. Die Antennen, die auf den Aufklärungsfotos filigran und unbedeutend aussahen, sind in Wirklichkeit größere technische Bauwerke. Oder waren es zumindest, bis sie von den Schiffsgeschützen, welche die großen Kanonen zum Schweigen brachten, auseinander genommen wurden. Jetzt sind sie nur noch Trümmer von der Sorte, auf der zu landen für einen Fallschirmspringer besonders unangenehm ist. Die Antennen bestanden – und die Trümmer bestehen – aus allem möglichen Kram: Rundhölzer aus philippinischem Mahagoni, stabile Bambussäulen, zusammengeschweißte Stahlsparren. Am häufigsten sind die Stücke, die einem Fallschirmspringer sofort ins Auge stechen: lange, kantig vorragende Metallstangen und kilometerweise Spanndraht, teils so straff, dass er einem herabstürzenden Marine den Kopf abschneiden könnte, teils ganz locker und wirr, mit spitz hervorstehenden Enden.
Es dämmert Shaftoe, dass dieser Bau nicht bloß eine Artilleriestellung ist; er ist eine japanische Nachrichtendienst-Zentrale. »Waterhouse, du elender Scheißkerl!«, brüllt er. Soviel er weiß, ist Waterhouse noch immer in Europa. Doch während er sich schützend die Hände vor die Augen schlägt und in den Albtraum hineinfällt, wird ihm klar, dass Waterhouse irgendetwas damit zu tun haben muss.
Bobby Shaftoe ist gelandet. Er versucht, sich zu bewegen, und die Trümmer bewegen sich mit ihm; er ist eins damit geworden.
Er schlägt vorsichtig die Augen auf. Sein Kopf ist in ein Gewirr von dickem Draht eingewickelt – ein Spanndraht, der unter Zug gerissen ist und sich um ihn geschlungen hat. Zwischen Drahtschlingen hervorspähend, sieht er ein Stück dünnes Rohr aus seinem Oberkörper ragen. Ein zweites hat seinen Oberschenkel und ein drittes seinen Oberarm durchbohrt. Er ist sich ziemlich sicher, dass er sich auch noch das Bein gebrochen hat.
Er bleibt eine Weile liegen und lauscht dem Krachen der Geschütze um ihn herum.
Es gibt einiges zu erledigen. Alles, woran er denken kann, ist der Junge.
Mit der freien Hand tastet er nach der Drahtschere und beginnt sich von dem Gewirr loszuschneiden.
Die Backen der Drahtschere passen knapp um die Metallrohre der Antenne. Er greift hinter sich, findet die Stellen, wo die Rohre sich in seinen Rücken bohren, und schneidet sie – schnipp, schnipp, schnipp – ab. Er schneidet das Rohr ab, das seinen Arm aufgespießt hat. Er beugt sich vor und schneidet das Stück ab, das ihm durchs Bein gedrungen ist. Dann zieht er die Rohre aus seinem Fleisch und lässt sie – plink, plink, plink, plink, plink – auf den Beton fallen. Es folgt viel Blut.
Er versucht erst gar nicht zu gehen. Er schleppt sich einfach über das Betondach der Festung. Die Sonne hat den Beton angewärmt und er fühlt sich gut an. Er kann das Landungsboot nicht sehen, wohl aber die paar Antennen, die oben daraus hervorragen, und weiß daher, dass es mittlerweile in Position ist.
Das Seil müsste da sein. Shaftoe stützt sich auf die Ellbogen und sieht nach.Tatsächlich, da ist es, ein Seil aus Manilafaser (was sonst!), das an einem Enterhaken befestigt ist; ein Zinken des Enterhakens sitzt in einem Granattrichter am Dachrand fest.
Er schafft es schließlich bis dorthin und beginnt, an dem Seil zu ziehen. Er schließt dabei die Augen, versucht aber, nicht einzuschlafen. Er zieht immer weiter und spürt irgendwann etwas Großes und Dickes zwischen den Händen: den Schlauch.
Fast fertig. Auf dem Rücken liegend, drückt er das Ende des Schlauchs an seine Brust und dreht den Kopf hin und her, bis er die Entlüftungshaube sehen kann, die sie auf den Aufklärungsfotos ausgemacht haben. Früher war sie mal mit einer Blechkappe abgedeckt, aber die ist mittlerweile längst verschwunden und nun ist es nur noch ein Loch im Dach mit ein paar gezackten Metallstücken an den Rändern. Er kriecht hin und steckt das Schlauchende hinein.
Irgendwer auf einem der Schiffe muss ihn wohl beobachten, denn der Schlauch versteift sich wie eine lebendig werdende Schlange und zwischen seinen Händen kann Bobby Shaftoe das Dieselöl hindurchströmen spüren. Fast vierzigtausend Liter von dem Zeug. Geradewegs in die Festung hinein. Er kann die Nips da unten heisere Lieder singen
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