Cryptonomicon
Katastrophen-Rettungsarbeiter, der sich vorbeugt und einen Haufen gezackter Betonbrocken auf Matschiges untersucht. Das alles versetzt Randy in einen Zustand frei fließenden Grauens. Um fünf Uhr morgens steht er auf, greift sich aus seiner Minibar zwei Päckchen japanische Snacks, verlässt das Hotel und folgt einer der beiden Notfall-Fluchtrouten, die er sich eingeprägt hat. Er wandert einfach drauflos und denkt, dass es lustig wäre, sich zu verlaufen. Dazu kommt es nach zirka dreißig Sekunden. Er hätte sein GPS mitbringen und Breite und Länge des Hotels markieren sollen.
Breite und Länge von Golgatha werden in dem abgefangenen Arethusa-Funkspruch in Grad, Minuten, Sekunden und Zehntelsekunden Breite und Länge ausgedrückt. Eine Minute entspricht einer nautischen Meile, eine Sekunde ungefähr dreißig Metern. Bei der Sekundenangabe haben die Golgatha-Zahlen eine Stelle hinter dem Komma, was eine Genauigkeit von drei Metern impliziert. GPS-Empfänger bieten eine derartige Genauigkeit. Randy ist sich nicht sicher, was für Sextanten japanische Landmesser während des Krieges vermutlich benutzten. Vor seiner Abreise hat er die Zahlen auf einen Zettel geschrieben, aber er hat die Sekundenangabe abgerundet und das Ganze lediglich in der Form »XX Grad, zwanzigeinhalb Minuten« ausgedrückt, was eine Genauigkeit von mehreren hundert Metern impliziert. Dann hat er drei weitere Standorte in der Nachbarschaft, aber Kilometer davon entfernt, erfunden und sie alle auf eine Liste gesetzt, auf der der richtige Standort die Nummer 2 war. Darüber hat er geschrieben »Wem gehören diese Parzellen?« oder, in der Sprache der Kryptologie, »WEMGE HOERE NDIES EPARZ« etc. und dann einen fast unglaublich langweiligen Abend damit verbracht, die zwei Kartenspiele zu synchronisieren und den gesamten Text mit dem Solitaire-Algorithmus zu verschlüsseln. Den Schlüsseltext und das nicht benutzte Kartenspiel hat er Enoch Root gegeben, dann hat er den Klartext durch einen Fettrest auf seinem Essensteller gewischt und ihn neben den offenen Abzug gelegt. Binnen einer Stunde war eine Ratte gekommen und hatte ihn gefressen.
Er wandert den ganzen Tag herum. Zuerst findet er es nur öde und deprimierend und meint, dass er es wohl sehr bald aufgeben wird, doch dann erwärmt er sich dafür und lernt, wie man hier isst: Man nähert sich Männern an Straßenecken, die kleine, gebratene Tintenfischbällchen verkaufen, gibt neolithische Grunzgeräusche von sich, bietet Yen an, bis man Essen in den Händen hält, und das isst man dann.
Aufgrund irgendeines Computerfreak-spezifischen Heimfindevermögens findet er Akihabara, das Elektronik-Viertel, zieht eine Zeit lang durch Geschäfte und betrachtet die ganze Gebrauchselektronik, die in einem Jahr in den Staaten zu haben sein wird. Dort befindet er sich noch, als sein GSM-Handy klingelt.
»Hallo?«
»Ich bin’s. Ich stehe hinter einer dicken gelben Linie.«
»Welcher Flughafen?«
»Narita.«
»Das hört man gern. Sag deinem Fahrer, er soll dich zum Mr. Donut in Akihabara bringen.«
Randy ist eine Stunde später dort und durchblättert ein telefonbuchgroßes Manga- Epos, als Avi hereinkommt. Das unausgesprochene Randy/Avi-Begrüßungsprotokoll schreibt vor, dass sie einander an dieser Stelle umarmen, und so tun sie es, zum nicht geringen Erstaunen ihrer Mit-Donut-Esser, die sich normalerweise mit Verbeugungen begnügen. Das Mr. Donut ist eine dreistöckige Angelegenheit, hineingequetscht in eine schmalbrüstige Immobilie mit annähernd der gleichen Grundfläche wie eine Wendeltreppe, und ziemlich überfüllt mit Leuten, die in ihren ausgezeichneten und höchst leistungsorientierten Schulen Englisch als Pflichtfach hatten. Außerdem hat Randy Zeit und Ort des Treffens vor einer Stunde über Funk durchgegeben. Deshalb reden Randy und Avi, solange sie hier sind, über vergleichsweise harmlose Dinge. Dann machen sie einen kleinen Bummel. Avi kennt sich in dieser Gegend aus. Er führt Randy durch einen Torweg ins Nirwana.
»Im Buddhismus«, erklärt Avi, »bezeichnet das Wort ›Nirwana‹ einen Zustand höchster Glückseligkeit. Das hier ist das Nirwana der pasocon otaku . Der Kern, um den sich Akihabara angelagert hat. Hierher kommen sie , um sich das Zeug zu besorgen, das sie brauchen, und hier erreichen sie einen Zustand höchster Glückseligkeit.«
» Pasocon otaku?«
» PC-Freaks«, sagt Avi. »Aber wie in so vielen anderen Dingen, treiben es die Japaner bis zu einem Extrem, das wir
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