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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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aber er beschließt zu seinem eigenem Erstaunen, es nicht zu tun. Vielleicht ist das pervers; er ist sich nicht sicher. Die letzten anderthalb Monate totaler Enthaltsamkeit, gelindert nur durch nächtliche Ergüsse in ungefähr vierzehntägigen Abständen, haben ihn eindeutig in einen geistigen Raum befördert, in dem er noch nie gewesen und dem er noch nie nahe gekommen ist, ja, von dem er noch nicht einmal gehört hat. Im Gefängnis musste er eine scharfe geistige Disziplin aufbringen, um nicht von Gedanken an Sex abgelenkt zu werden. Nach einer Weile gelang ihm das beunruhigend gut. Es ist eine höchst unnatürliche Art, an das Geist/Körper-Problem heranzugehen, so ziemlich die Antithese zu jeder von den Sechzigern und Siebzigern eingefärbten Philosophie, die er je von seinen Baby-Boomer-Eltern aufgenommen hat. Es ist genau das, was er mit knallharten Horrortypen assoziiert: Spartanern, Viktorianern und amerikanischen militärischen Helden der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Es hat Randy in seiner Art, an das Hacken heranzugehen, selbst in so etwas wie einen knallharten Typen verwandelt und mittlerweile, so vermutet er, auch in einen geistigen Raum befördert, wie er ihn, was Herzensangelegenheiten angeht, so intensiv und leidenschaftlich noch nie erlebt hat. Das wird er allerdings erst dann genau wissen, wenn er Amy gegenübersteht, was allem Anschein nach eine ganze Weile dauern wird, da er gerade aus dem Land hinausgeworfen wurde, in dem sie lebt und arbeitet. Bloß als Experiment, beschließt er, wird er vorläufig die Hände von sich lassen.Wenn es ihn im Vergleich zu seinem pathologisch abgeklärten West-Küsten-Selbst ein wenig angespannt und sprunghaft macht, dann ist das eben so. Das Schöne an Asien ist, dass angespannte, sprunghafte Menschen hier gar nicht weiter auffallen. Schließlich ist noch niemand am Geilsein gestorben.
    Also erhebt er sich unbefleckt aus dem Bad und hüllt sich in einen vestalisch weißen Bademantel. Seine Zelle in Manila hatte keinen Spiegel. Ihm war klar, dass er vermutlich abnahm, doch erst als er aus dem Bad steigt und sich im Spiegel betrachtet, geht ihm auf, wie sehr. Zum ersten Mal seit seiner Jugend hat er eine Taille, was den Bademantel zu einem geradezu praktischen Kleidungsstück macht.
    Er ist kaum wiederzuerkennen. Vor diesem, seinem dritten Vorstoß ins Geschäftsleben ist er irgendwie davon ausgegangen, dass er, als Mittdreißiger, auseinander klamüsert hat, wer er ist, und dass er so, wie er ist, auch für immer bleiben wird, von einem allmählich verfallenden Körper und einem allmählich wachsenden Netto-Vermögen einmal abgesehen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es möglich war, sich so sehr zu verändern, und nun fragt er sich, wo das hinführen wird. Aber das ist nichts weiter als ein ungewöhnlicher Moment der Selbstreflexion. Er schüttelt ihn ab und wendet sich wieder dem Leben zu.
    Die Japaner haben und hatten schon immer ein wunderbares Geschick für graphische Bilder – das wird in ihren manga und ihren anime deutlich, erreicht seine vollste Ausdrucksblüte jedoch bei Sicherheits-Ideogrammen. Leckende rote Flammen, Gebäude, die entzweibrechen und einstürzen, während sich der gezackte Boden unter ihnen öffnet, die Silhouette eines Fliehenden in einer Tür, eingefangen im stroboskopischen Blitz einer Detonation. Was an schriftlichem Material mit diesen Bildern einhergeht, ist für Randy natürlich nicht zu verstehen, sodass sein rationaler Verstand nichts hat, womit er arbeiten kann; die schrecklichen Ideogramme leuchten grell, fragmentarisch alptraumhafte Bilder, die an Wänden auftauchen und in den Schreibtischschubladen auf seinem Zimmer, wenn er auch nur einen Moment lang nicht Acht gibt. Was er lesen kann, ist nicht gerade beruhigend. Er liegt im Bett, versucht einzuschlafen und vergegenwärtigt sich die Lage der Notfall-Taschenlampe auf seinem Nachtschränkchen und des Paars (viel zu kleiner) Gratis-Pantoffeln, die man ihm aufmerksamerweise hingestellt hat, damit er aus dem brennenden, einstürzenden Hotel sprinten kann, ohne sich die Füße zu sashimi zu zerschneiden, wenn der nächste Erdstoß der Stärke 8,0 die Fensterscheiben aus den Rahmen schüttelt. Er starrt zur Decke hoch, die mit Sicherheitseinrichtungen überladen ist, deren LEDs eine schimmernde rote Konstellation bilden, eine kauernde Figur, den alten Griechen als Ganymed, der Anal Empfängliche Becherträger, bekannt und den Japanern als Hideo, der Tapfere

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