Cryptonomicon
uns kaum vorstellen können.«
Das Ganze ist genauso angelegt wie ein asiatischer Lebensmittelmarkt: ein Labyrinth schmaler Gänge, die sich zwischen Ständen, kaum größer als Telefonzellen, hindurchwinden, wo Kaufleute ihre Waren zur Ansicht ausgelegt haben. Als Erstes sehen sie einen Kabel-Stand: mindestens hundert Rollen Kabel verschiedener Typen und Stärken in farbenfroher Isolierung. »Wie passend!«, sagt Avi, während er die Auslage bewundert. »Wir müssen über Kabel reden.« Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass sich der Ort hervorragend für ein Gespräch eignet: Die Pfade zwischen den Ständen sind so schmal, dass die beiden hintereinander gehen müssen. Niemand kann ihnen folgen oder ihnen nahe kommen, ohne deutlich aufzufallen.Vor ihnen reckt sich drohend eine Phalanx von Lötkolben, die dem betreffenden Stand das Aussehen eines Ladens für Kampfkunst verleihen. Kaffeedosengroße Potentiometer sind zu Pyramiden geschichtet. »Erzähl mir von Kabeln«, sagt Randy.
»Ich muss dir nicht sagen, wie sehr wir auf unterseeische Kabel angewiesen sind«, sagt Avi.
»Heißt ›wir‹ die Krypta oder die Gesellschaft im Allgemeinen?«
»Beides. Selbstverständlich kann die Krypta ohne Kommunikationsverbindungen zur Außenwelt überhaupt nicht funktionieren. Aber das Internet und alles andere ist genauso auf Kabel angewiesen.«
Ein pasocon otaku im Trenchcoat mit einer Plastikschüssel als Einkaufskorb beugt sich über eine Auslage von Ringwickelungen aus Kupfer, die so aussehen, als wären sie vom Besitzer von Hand poliert worden. Fingergroße, an einem Gestell über Kopfhöhe befestigte Halogen-Spots betonen ihre geometrische Vollkommenheit.
»Und?«
»Und Kabel sind anfällig.«
Sie schlendern an einem Stand vorbei, der sich auf Bananenstecker, und nebenher auch Krokodilklemmen, spezialisiert hat, die um Pappscheiben zu bunten Rosetten angeordnet sind.
»Früher gehörten diese Kabel Post- und Telefongesellschaften. Die im Grunde einfach staatliche Einrichtungen waren. Daher taten sie auch weitgehend, was der Staat ihnen vorschrieb. Aber die neuen Kabel, die heute verlegt werden, sind im Besitz und unter der Kontrolle von Konzernen, die niemandem außer ihren Investoren verpflichtet sind. Das bringt bestimmte Staaten in eine Lage, die ihnen nicht sonderlich behagt.«
»Okay«, sagt Randy, »sie hatten letztlich die Kontrolle über den Informationsfluss zwischen Ländern, insofern sie die Gesellschaften betrieben, die die Kabel betrieben.«
»Ja.«
»Und jetzt ist das nicht mehr so.«
»Richtig. Es ist vor ihrer Nase zu einer gewaltigen Machtverschiebung gekommen, die sie nicht vorausgesehen haben.« Avi bleibt vor einem Stand stehen, der LEDs in allen möglichen Kaugummifarben verkauft, in winzige Schachteln verpackt wie reife tropische Früchte in Kisten und aus Schaumstoffkegeln ragend wie psychedelische Pilze. Er vollführt, um die Machtverschiebung zu verdeutlichen, ausladende Gesten, doch für Randys zunehmend schräge Wahrnehmung sieht er aus wie jemand, der schwere Goldbarren von einem Stapel auf den anderen umschichtet. Von der anderen Seite des Ganges her starren die toten Augen hunderter Miniatur-Videokameras sie an. Avi fährt fort: »Wir haben uns ja schon oft darüber unterhalten, dass es viele Gründe dafür gibt, warum verschiedene Staaten möglicherweise den Informationsfluss kontrollieren wollen. China möchte vielleicht eine politische Zensur institutionalisieren, während die Vereinigten Staaten elektronische Geldüberweisungen regulieren möchten, damit sie auch weiterhin Steuern erheben können. Früher konnten sie das letztlich dadurch, dass ihnen die Kabel gehörten.«
»Aber jetzt können sie es nicht mehr«, sagt Randy.
»Jetzt können sie es nicht mehr und diese Veränderung ist sehr schnell vonstatten gegangen oder sah für den Staat mit seinem zurückgebliebenen geistigen Stoffwechsel zumindest so aus, und jetzt liegen sie weit hinter der Kurve, haben Schiss, sind sauer und fangen an, um sich zu schlagen.«
»Ach ja?«
»Ja.«
»Auf welche Weise schlagen sie um sich?«
Ein Kippschalter-Händler schnickt einen Lappen über Reihen und Säulen von Ware aus rostfreiem Stahl. Die Spitze des Lappens durchbricht die Schallgrenze und erzeugt einen winzigen Knall, der ein Stäubchen von der Spitze eines Schalters bläst. Jeder ignoriert die beiden höflich. »Hast du eine Vorstellung, was Ausfallzeiten bei einem dem neuesten Stand der Technik entsprechenden Kabel
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