Cryptonomicon
und bewachen die Zufahrt mit Schnellfeuergewehren. Tom stolziert regelrecht. In dem kleinen Tableau verwirklichen sich seine sämtlichen Phantasien.
Eine große Plastikkiste fällt mit dumpfem Geräusch in den Sand und platzt auf, sodass ein Wirrwarr von Korallensplittern herausrieselt. Randy schlendert hinüber und sieht zwischen den Korallenkrusten Goldblätter, in die winzige Löcher gestanzt sind. Für ihn sind die Löcher interessanter als das Gold.
Aber jeder reagiert anders darauf. Doug Shaftoe ist in Gegenwart sehr großer Mengen von Gold stets auffällig cool und irgendwie nachdenklich, als hätte er zwar schon immer gewusst, dass es da ist, doch als brächte ihn erst die Berührung damit auf den Gedanken, wo es herkommt und wie es dorthin gelangt ist. Vom Anblick eines einzelnen Barrens kam Goto Dengo beinahe sein Kobe-Rindfleisch hoch. Für Eberhard Föhr, der draußen in der Bucht träge rückenschwimmt, ist es die physische Verkörperung des Geldwerts, was für ihn, und den Rest von Epiphyte, seit jeher im Wesentlichen eine mathematische Abstraktion darstellt – eine praktische Anwendung eines speziellen Unter-Unter-Unterzweiges der Zahlentheorie. Auf ihn übt es somit die gleiche Art von rein intellektueller Faszination aus wie ein Mond-Stein oder ein Dinosaurierzahn. Tom Howard sieht darin die Verkörperung einiger politischer Prinzipien, die fast ebenso rein und von der Realität geschieden sind wie die Zahlentheorie. Dieser Auffassung ist ein gewisser Anflug von persönlicher Rechtfertigung beigemischt. Für Leon, den Meeres-Vagabunden, ist es einfach eine Ladung, die von A nach B befördert werden muss, wofür er mit etwas Nützlicherem entschädigt werden wird. Für Avi ist es eine unauflösliche Mischung aus Heiligem und Satanischem. Randy – und wenn irgendwer das wüsste, wäre es ihm schrecklich peinlich und er würde ohne weiteres eingestehen, dass es kitschig ist – sieht darin das, was einer physischen Verbindung zu seiner Liebsten im Augenblick am Nächsten kommt, insofern sie diese Barren erst vor ein paar Tagen aus dem Wrack des Unterseeboots herausgeholt hat. Und nur in dieser Hinsicht berührt ihn die Sache überhaupt noch. So hat er sich in den paar Tagen seit seinem Entschluss, sich von Leon durch die Sulusee nach Nord-Luzon schmuggeln zu lassen, immer wieder daran erinnern müssen, dass der eigentliche Zweck der Reise darin besteht, Golgatha zu öffnen.
Nachdem das Gold entladen worden ist und Leon ein paar Vorräte übernommen hat, zaubert Tom Howard eine Flasche Single-Malt-Scotch hervor, wodurch Randys Frage, wer eigentlich in all den Duty-free-Läden auf Flughäfen einkauft, endlich eine Antwort findet. Alles versammelt sich am Strand, um anzustoßen. Randy ist ein wenig nervös, als er sich der Runde zugesellt, weil er nicht recht weiß, worauf er einen Toast ausbringen soll, falls ihm diese Aufgabe zufällt. Darauf, dass sie Golgatha ausgraben? Darauf kann er eigentlich nicht trinken. Die geistige Begegnung zwischen Avi und Goto Dengo glich einem über einen Luftspalt springenden Funken – unvermittelt, blendend und ein wenig zum Fürchten – und ihr Angelpunkt war die gemeinsame Auffassung, dass dieses Gold durchweg Blutgeld und dass Golgatha ein Grab ist, das zu entweihen sie im Begriff stehen. Nicht gerade Anlass für einen Toast. Wie wäre es stattdessen mit einem Toast auf ein paar abstrakte, erhabene Prinzipien?
Hier hat Randy erneut ein Problem, etwas, was ihm langsam dämmert, während er unterhalb von Tom Howards Betonhaus am Strand steht: die vollkommene Freiheit, die Tom in Kinakuta gefunden hat, gleicht einer Schnittblume in einer Kristallvase. Sie ist herrlich, aber sie ist tot, und tot ist sie deshalb, weil man sie ihrem Boden entrissen hat. Und was genau ist dieser Boden? Als erste Annäherung könnte man schlicht sagen »Amerika«, aber ein bisschen komplizierter ist die Sache schon; Amerika ist einfach die am schwersten zu ignorierende Konkretion eines kulturellen und philosophischen Systems, das sich auch an anderen Orten findet. Nicht an vielen. Ganz sicher nicht in Kinakuta. Der nächste Vorposten ist eigentlich gar nicht so weit weg: Die Filipinos haben, bei allen Mängeln in puncto Menschenrechte, das ganze Prinzip der westlichen Freiheit derart in sich aufgesogen, dass sie im Vergleich mit anderen asiatischen Ländern, wo sich niemand einen Pfifferling um Menschenrechte schert, zu ökonomischen Nachzüglern geworden sind.
Am Ende erweist sich
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