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Crystall (German Edition)

Crystall (German Edition)

Titel: Crystall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Mahler
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lauschte in sich hinein und suchte nach einer Spur von Panik. Sie fand sie heute nicht, stattdessen verhielt sie sich ungewöhnlich ruhig. Sie horchte wieder in den Wald hinein und versuchte aus den Augenwinkeln einen Blick zu erhaschen. Das Tappen auf Laub ging über zu gedämpften Schritten auf weichem Gras. Für einen winzigen Augenblick nur sah Mandy einen schlanken, fellbezogenen Körper auf vier Pfoten, hörte das Hecheln aus einer Hundeschnauze und dann ... das Bild entglitt ihr, als sie den Kopf vollends umwandte. Statt eines Tieres stand dort oben dicht vor dem Wald eine alte Frau, leicht gekrümmt und eingehüllt in einen Kapuzenmantel.
    Mandy keuchte vor Überraschung. Wenn sie jemanden nicht erwartet hätte, dann war es Kaija. Hastig wollte sie aufspringen und zu ihr laufen, doch die Alte hob abwehrend den Arm. Mandy ließ sich zurücksinken.
    „Nur keine Umstände wegen einer alten Frau, schönes Kind“, wehrte Kaija ab. Es kam einem Meckern ähnlich, wie es alten Leuten, die die Hundert längst überschritten hatten, manchmal eigen war.
    Doch Mandy war eher überrascht, die Worte überhaupt verstanden zu haben, denn Kaija stand noch immer gute zehn oder mehr Meter von ihr weg. Und erst jetzt lief die Alte weiter und ließ sich mit einer Behändigkeit neben ihr nieder, die Mandy verwirrt die Stirn runzeln ließ. Nicht das kleinste Stöhnen kam von ihren Lippen, als täte sie auch in ihrem Alter nichts anderes als Sportübungen. Allerdings hatte die Geste auch etwas Sonderbares an sich, beinahe wie eine Erniedrigung. Es war Mandy unklar, eine Frau von solchem Rang und Namen neben sich im Gras hocken zu sehen. Sie schwieg dazu allerdings.
    „Ich muss sagen, deine Gedanken sind recht seltsam“, bemerkte Kaija mit einem mühsam gelungenen Lächeln. Sie sah heute deutlich älter aus, als noch beim letzten Mal. Und auch, wenn sich Mandy der Gedanken über alle Maßen schämte, Kaija hatte auch die Aura einer Frau, die zu alt war und jeden Tag mit dem Tode rechnen musste.
    „Ich verstehe Sie nicht“, stammelte Mandy.
    „Oh doch, das tust du gewiss.“ Kaija zwang sich wieder zu einem Lächeln. „Und du hast auch Recht, meine Tage sind bald gezählt.“
    Mandy fuhr wie unter einem Blitzschlag zusammen. „Sie haben meine Gedanken...“
    „Gelesen?“ Kaija schüttelte amüsiert den Kopf. „Mädchen, du vergisst zu schnell, für meinen Geschmack.“
    „Das tut mir leid, ich wollte nicht...“
    Kaija hob abermals die Hand und brachte das Mädchen zum Verstummen. „Was tut dir leid, du dummes Kind? Mir die Wahrheit zu sagen? Ich habe mich damit abgefunden, eine alte Frau zu sein, deren Tage wahrscheinlich dieses Jahr gezählt sind.“
    Die Offenheit dieser Worte versetzten Mandy unweigerlich einen Schlag. „Wenn ich sagen würde, Sie sehen noch frisch aus, dann wäre das gelogen. Aber Sie müssen noch nicht sterben.“ Was rede ich da eigentlich für einen Blödsinn.
    „Das erste wahre Wort“, kicherte Kaija und begann gleich darauf zu husten. Sie war keine alte Frau, wie noch das letzte Mal, sie war eine uralte Frau. „Aber dennoch habe ich nicht die Anstrengung meines Besuches auf mich genommen, weil ich über mich reden möchte. In meinem Alter hat man das meiste schon gesehen oder erfahren, es lohnt sich kaum noch. Du bist meine einzige Chance, etwas Neues zu erlernen, wie ein Schulkind.“
    Die Wahl der Worte hätte Mandy eigentlich erschrecken sollen. Kaija sprach, als wäre sie nichts als eine wissenschaftliche Entdeckung. Trotzdem musste sie letztlich darüber lachen. „Ich nehme an, Sie wissen, was mein Problem ist?“
    „Ich bin eine Seherin.“
    „Aha“, machte Mandy.
    Kaija lachte wieder meckernd, anscheinend machte es ihr Spaß, Mandy auf die Folter zu spannen. „Du sehnst dich nach einem guten Freund, mit dem du über alles hier reden kannst, und zwar aufrichtig.“
    „Ich habe Freunde“, widersprach Mandy rasch. „Nawarhon, Maxot, Nirrka, Lyhma und all die anderen.“ Als Kaija daraufhin den Kopf zu ihr umwandte, hatte Mandy Mühe, ihrem Blick stand zu halten. Irgendwie, fand Mandy, roch Kaija wie eine Hundertzwanzigjährige, nach Verwesung und Erde, nach einer Frau, die deutlich zu lange gelebt hatte. Was war mit ihr geschehen in den letzten Tagen?
    „In deinem Herzen, Mandy, weißt auch du, dass es nicht stimmt.“ Kaija lächelte, als sie Mandys Erschrecken sah. „Sie sind deine Freunde und niemand kann dir das nehmen. Aber keiner von ihnen ist dieser Freund, mit dem du

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