Crystall (German Edition)
erwiderte Lyhma mit ruhiger Stimme und nach reichlich Überlegen. „Im Groben weißt du, was deine Aufgabe ist, aber im Einzelnen erkennst du nicht einmal Freund und Feind.“
Mandy blinzelte überrascht. „Ist das ein Vorwurf?“
Einen Moment sah Nawarhons Schwester unschlüssig aus, doch dann lächelte sie sanftmütig, fast mitleidig. „Ganz und gar nicht. Keiner von uns hätte überhaupt das Recht, dir etwas vorzuhalten, was er selbst nicht besser bringt.“ Sie seufzte hörbar. „Die Wahrheit ist, wir wissen selbst nicht alle Details in diesem ... Spiel .“
Das Mädchen war nicht einmal überrascht. Allein die Betonung ihres letzten Wortes ließ darauf schließen, dass selbst Lyhma nicht mehr genau wusste, worum es wirklich ging. Anfangs hatte alles so einfach gewirkt, jeder war sich seinem Teil der Mission bewusst gewesen – aber mittlerweile spürte Mandy, dass ihre Freunde mehr und mehr misstrauisch worden. Sie schienen ebenfalls zu spüren, wie eine neue, dunkle Vision ihr Denken und Handeln bestimmte. Alles hatte sich irgendwie geändert. Es ging letztlich um das Überleben dieser märchenhaften Welt, nach wie vor. Doch die Umstände und Voraussetzungen hatten sich gewandelt. Aus Feinden wurden plötzlich Verbündete, Vertraute erwiesen sich als Falschspieler, die Erfüllung des Reliktes bekam für jeden irgendwie eine andere Bedeutung, der wahre Feind war stärker als vermutet und schließlich war auch ihre Sicherheit verflossen. Zu Beginn der Reise verlief die Mission planmäßig, jede Bewegung wurde vorausberechnet ... aber nun ritten sie einfach dahin, mit dem ständigen Gewissen im Nacken, dass jeder Schritt durchaus der falsche sein konnte.
„Verzeihung“, bemerkte Lyhma mit einem entschuldigenden Lächeln. „Ich wollte dich nicht entmutigen.“
Mandy brauchte eine Weile, um den Sinn dieser Worte zu verstehen. „Oh nein, es muss dir nicht leid tun. Es wäre schlimm, wenn ihr noch immer unfähig sein würdet, mir die Wahrheit zu sagen.“ Mandy brauchte gar nicht in Lyhmas Augen zu sehen, um zu begreifen, dass sie etwas Schmerzliches gesagt hatte. Stockend wechselte sie das Thema. „Wie ... wie verstehen sich der Prinz und Sator mittlerweile?“
Lyhmas Trauer schwand so rasch, wie sie gekommen war. „Nun ja, sie haben noch immer Burgfrieden geschlossen. Aber sie werden niemals Freunde werden. Ich glaube, spätestens in den Kristallbergen wird es einmal zu einer Katastrophe kommen. Wenn du mich fragst“, fügte sie noch mit einem aufmunternden Blick hinzu. „Allzu schlimm wird es aber nicht werden. Sie sind keine Todfeinde, eher erscheinen sie mir wie zwei große Jungs, die mit Begeisterung ein Spielzeug jagen und einfach zu stur sind, es sich zu teilen. Männer halt.“
Mandy lachte leise. „Da könntest du Recht haben.“
„Aber etwas anderes bereitet dir Sorgen?“
Der Themensprung war so hastig, dass Mandy abermals einen Moment nachdenken musste. „Wahrscheinlich habe ich dieselben wie du. Nawarhons Vater.“
Lyhma nickte. „Ich weiß, was du gern wissen möchtest ... eine Antwort darauf habe ich nicht. Niemand ahnt auch nur, was der Prinz tun wird, wenn er seinem Vater wieder begegnet. Eigentlich müsste er ihn töten, er hat uns betrogen und gefährdet die Existenz unserer Heimat.“
„Aber er ist Nawarhons Vater und euer König“, führte Mandy vor Augen.
„Das ist ja das Problem.“
Beide schwiegen sie, denn es war vorauszusehen, dass dieses Gespräch höchstens in neuen Zweifeln enden würde, bestenfalls hätten sie sich im Kreis gedreht. Doch es war auch eine Debatte, die es später zu klären galt, denn nun wurde Mandys Aufmerksamkeit angeregt, ohne dass ihr Reiterzug auch nur verlangsamte.
Mandy blickte erstaunt voraus. Die knappe Stunde war ebenfalls viel zu schnell an ihr vorbeigezogen und jetzt hatte sich die Landschaft geändert, und zwar radikal. Sie musste gar nicht erst nachfragen, um zu wissen, dass sie dem Ziel nahe waren. Noch unscharf, aber bereits schemenhaft tauchte am Horizont das Kristallgebirge auf. Sie erkannte keine Einzelheiten und wusste auch nicht zu sagen, wie hoch oder breit das Mineralmassiv war. Genau genommen sah sie noch nicht einmal, ob es tatsächlich aus Kristall bestand. Sie bemerkte lediglich das spiegelnde Licht der gebrochenen Sonnenstrahlen auf den Kämmen.
Mandy verlor kein Wort in diesen Sekunden, sie wusste auch so genug. Die Landschaft unter den Hufen wurde lehmiger, dann teils felsenbewehrt und mit einer hauchdünnen
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