Culpa Mosel
schien lauter und drängender geworden zu sein.
Wie stabil war das Türschloss? Hatte sie das Küchenfenster geschlossen? Stand womöglich die obere Scheibe offen? Sie hatte sich aufgesetzt, Mund und Augen weit offen, die Schultern hochgezogen. Außer dem Herzklopfen und ihrem kurzatmigen Hecheln hörte sie nichts.
Sie setzte einen Fuß auf den kühlen Boden und griff nach dem vierkantigen Holz. Sie atmete tief durch, als sie die Tasche und das Wollhemd von der Stuhllehne zog und damit ins Bett zurückhuschte, als wäre es die rettende Insel vor allem Ungemach dieser Nacht.
Das Handy fand sie, aber es waren keine Nummern einprogrammiert, und der Taschenkalender mit dem Telefonverzeichnis lag unten auf dem Schreibtisch. Wen sollte sie anrufen? Ihr Kopf war leer. Ihre Gedanken waren gelähmt, wie sie es manchmal in schlechten Träumen erlebte, wenn sie auf der Flucht war und einfach nicht von der Stelle kam, weder gedanklich noch physisch.
Sie wagte es nicht, eine Kerze anzuzünden. Das Klopfen war verstummt. Sie zog sich das Hemd über und ging mit angehaltenem Atem zum gardinenlosen Fenster. Ihre Zehen stießen an ein Stuhlbein, sie stöhnte vor Schmerz auf, zog den Fuß hoch und umklammerte den höllisch schmerzenden Zeh.
Hatte der Kerl da draußen sie gehört?
Es blieb still. Sie lugte in den dunklen Garten. Der Himmel war bewölkt. Es war kurz nach Neumond. Sie glaubte, die Konturen des Staketenzauns zu erkennen. Dort bewegte sich etwas, es war kein Tier, eine menschliche Gestalt? Sie zuckte zusammen.
Wieder schrie der Mann: »Mach auf, ich tu dir nix!«
Der Dialekt war von hier. Sie konnte die Stimme niemandem zuordnen. Aber wenn jemand schrie, klang er anders.
Als sie fröstelnd das Hemd vorne übereinanderschlug, fühlte sie das kleine Stück Karton in der Brusttasche. Es war die Visitenkarte, die ihr der Polizist gegeben hatte. Sie könne ihn jederzeit anrufen, hatte er gesagt. Unten war von Hand seine Privatnummer notiert.
Sie hockte sich unter dem Fenster auf den Boden. Das Licht des kleinen Displays am Handy schirmte sie mit der Hand ab. Es zeigte kurz nach null Uhr. Sie hatte gedacht, es sei lange nach Mitternacht. Musste beim Notruf eine Vorwahl verwendet werden? Meldete sich unter der 110 nun Feuerwehr oder Polizei? Sie hielt die Karte in den Schein des Displays, während das Bersten von Glas ihr einen kalten Schauer über die Haut jagte.
Das Klingeln ließ Walde aufschrecken. Er war über den Akten, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, eingenickt. Die CD mit Michel Petruccianis Konzert in Tokio lief noch. Mist, sein Handy befand sich noch in der Jacke an der Dielegarderobe. Fast wäre er über den Karton gestürzt, der neben seinem Stuhl auf dem Boden stand. Der Klingelton stieg an, als er das Handy aus der Tasche zog. Zudem drang nun die Musik in die Diele. Er drückte auf Empfang, huschte in sein Arbeitszimmer zurück und meldete sich erst, als er die Tür wieder geschlossen hatte.
»Hier ist …« Er hörte eine heisere Frauenstimme. Nach einem kurzen Räuspern fuhr sie flüsternd fort. »Hier ist Andrea … Andrea Pawelka. Bei mir versucht jemand einzubrechen.«
»Lassen Sie das Handy eingeschaltet. Ich bin unterwegs.«
Als er zwei Minuten später mit Blaulicht und Martinshorn durch die Zurmaiener Straße in Richtung Autobahn raste, wurde ihm klar, dass er bestenfalls in fünfundzwanzig Minuten in dem Moselort bei Bernkastel-Kues sein konnte.
Er nahm das Mobiltelefon vom Beifahrersitz. »Andrea, ist noch alles klar?«
»Ja.«
»Ich komme, so schnell es geht, aber ich muss kurz auflegen. Ich rufe gleich zurück.«
»Nein, ich rufe besser wieder an.« Er konnte sie wegen des Lärms des Motors und wegen der Geräusche des Martinshorns nur schwer verstehen.
Während er den Notruf wählte, wich er einem sich bedrohlich nach links bewegenden Lkw aus und streifte dabei um ein Haar die Mittelleitplanke. Zum Glück folgten keine nennenswerten Kurven, denn es dauerte fast bis zur Autobahnbrücke hinter Schweich, bis er den Kollegen erklärt hatte, wo das einsam hinter dem Ort gelegene Haus von Andrea Pawelka zu finden war.
Das Telefon blieb stumm. Walde hielt es sich immer wieder ans Ohr, weil er befürchtete, das Klingelzeichen zu überhören. Er machte sich Vorwürfe. Andrea Pawelka war vielleicht die Einzige aus der Familie, die noch lebte. Warum war er nicht gleich darauf gekommen, dass sie das nächste Opfer sein könnte? Und warum hatte er nicht unverzüglich die Kollegen
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