Cupido #1
– alles um die enorme Last der Erinnerungen, die über sie hereinbrachen, besser ertragen zu können. Es war erstaunlich: Wie selten wusste sie abends noch, was sie mittags gegessen hatte, aber an jede Sekunde, jedes Geräusch, jeden Geruch jener Nacht vor über einem Jahrzehnt erinnerte sie sich genau. Als sie die Aussage ihres ehemaligen Nachbarn Marvin Wigford las, musste sie zwischendurch ins Bad gehen und sich zum zweiten Mal an diesem Tag übergeben. Marvin gab an, dass Chloe mit der Art sich anzuziehen die Männer im Gebäude «provoziere» und in Röcken «durch den Hof stolziere, die sich für die Studentin einer katholischen Universität nicht gehörten». Er folgerte, es sei «kein Wunder, dass ihr irgendwann so etwas passiert sei, denn sie mache die Männer absichtlich heiß». Die Schuldgefühle und Selbstvorwürfe, die sie so lange Jahre niederkämpft hatte, kamen wieder hoch. Obwohl die Vernunft ihr sagte, dass Marvin doch nur ein gestörter Widerling war, fühlte sie sich trotzdem schmutzig und gedemütigt. Ganz tief in ihr begraben hatte ein Teil von ihr immer sich selbst für das, was geschehen war, verantwortlich gemacht. Jahrelang war in ihrern Kopf herumgespukt, was sie alles hätte tun oder lassen oder anders machen sollen, um die Untat zu verhüten, und welche Wendung ihr Leben dann genommen hätte. Das war der schwerste Teil der Therapie – zu lernen, sich nicht selbst die Schuld zu geben.
Nach dem Ausflug ins Bad stellte sie sich ans Balkongeländer, sah noch einmal dem Kommen und Gehen der Boote zu, und trank dabei etwa die zehnte Tasse Kaffee an diesem Tag. Der Berufsverkehr hatte eingesetzt, und in Pompano Beach auf der anderen Seite des Kanals begannen die Straßen immer voller zu werden. Ihr Pager hatte sie ein paar Mal aus der Vergangenheit gerissen, und gewissenhaft rief sie jeden zurück. Die Gespräche lenkten sie kurzfristig von den Polizeiberichten und Zeugenaussagen ab, von der wohl bekannten, kalten Angst, der Panik und den Schuldgefühlen, vor allem die Telefonate mit der überforderten Marisol. Später machte C. J. mit Lucy einen Spaziergang am Wasser, bevor es dafür zu dunkel wurde.
Als sie wieder heimkam, verbrachte sie eine weitere Stunde mit den Berichten, darunter auch ihre eigene Aussage, in der sie jedes grausame Detail, jeden bewussten Augenblick des 30. Juni 1988 schilderte. Es begann mit dem Streit mit Michael im Auto, der sich im Innenhof fortgesetzt hatte; dann, wie sie vom Geschmack von Latex auf den Lippen und dem erstickenden Gewicht auf der Brust aufgewacht war, der Schmerz, als er auf sie stieg, sein Penis in sie eindrang, während sie vergebens versuchte, sich zu wehren. Der Bericht endete mit ihrer letzten bewussten Erinnerung, als das kalte Messer wütend in die zarte Haut ihrer Brüste schnitt, ihr letzter Blick auf die sich rot färbenden Laken. Jetzt, zurück auf dem Balkon, zurück in der Gegenwart, hatte sie eine Hand schützend auf ihre Brust gelegt, mit der anderen fasste sie sich an den Hals, wie um sich vom unsichtbaren Würgegriff der Angst zu befreien.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Auf der Caller–ID–An–zeige stand Queens DA. C. J. wischte sich die Tränen fort und räusperte sich.
«Hallo?»
«Ist da eine Miss ...» Der Mann am anderen Ende stockte, anscheinend versuchte er eine unleserlichen Nachricht zu entziffern. «... Tooso?»
«Hier spricht Ms. Townsend. Kann ich Ihnen helfen?»
«Entschuldigen Sie. Meine Sekretärin hat mir einen verstümmelten Namen hinterlassen, der wie Tooso aussieht. Verzeihung. Hier
spricht Bob Schurr von der Staatsanwaltschaft Queens, Sie hatten angerufen. Was kann ich für Sie tun?»
C. J. versuchte sich zu sammeln. «Ja, Mr. Schurr, vielen Dank für Ihren Rückruf. Also, es geht um das Auslieferungsverfahren eines Straftäters zurück nach New York. Ich müsste wissen, was das Protokoll bei Ihnen vorsieht.» Sie war jetzt ganz die Anklägerin, als ginge es hier um eine völlig fremde Person.
Ein langes Schweigen entstand. «Sie sind von der Staatsanwaltschaft?»
«Ja. Entschuldigen Sie. Bei der in Miami.»
«Ach so. Also gut. Um wen geht es, und weswegen wird er in New York gesucht?»
«Naja, in New York liegt noch kein Haftbefehl gegen ihn vor. Es geht um ein unaufgeklärtes Verbrechen, und wir glauben, dass wir hier einen Verdächtigen haben.»
«Ein ungelöster Fall? Sie meinen, es gibt noch keine Anklage? Keinen Haftbefehl?»
«Nein. Noch nicht. Die Behörden hier unten haben
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