Cupido #1
vergessen. Und wenn die Welt unterging, nach 16:30 Uhr arbeitete Marisol nicht mehr.
«Ja. Ich muss in den nächsten Tagen eine Menge Recherchen erledigen. Wahrscheinlich bin ich bis spätabends hier. Bitte verlegen Sie die Vernehmung der Wilkerson–Angehörigen morgen früh und das Meeting im Valdon–Fall mit den Detectives Munoz und Hogan morgen Nachmittag. Bei Valdon sind es noch zwei Wochen bis zur Verhandlung. Sagen Sie ihnen, nächsten Freitag passt es mir besser. Ach, und bitte halten Sie mir in den nächsten Tagen die Anrufe vom Leib, solange nicht der Oberstaatsanwalt dran ist oder das Gebäude brennt.» Sie lächelte und fragte sich dabei, ob Marisol überhaupt Sinn für Humor hatte.
Anscheinend nicht. «Gut», war alles, was Marisol sagte, bevor sie die Tür zuknallte. C. J. hörte sie wild auf Spanisch fluchen, während sie zu ihrem Schreibtisch zurückstapfte. Marisol würde ihr bestimmt nicht Bescheid sagen, falls es wirklich einmal brannte; das war der Preis ihrer innigen Feindschaft. Aber es gab ja die Rauchmelder, und außerdem wäre es nur ein Sprung aus dem ersten Stock. Das mit dem Teamwork hatte jedenfalls nicht geklappt.
Wieder allein in ihrem Büro, starrte sie aus dem Fenster auf die andere Straßenseite, wo das Gerichtsgebäude und das Bezirksgefängnis von Dade County standen. Dort saß ihr Vergewaltiger, zu Gast im Knast, ein Gefangener des Staates Florida, ohne Kaution. Sie trank einen Schluck kalten Kaffee und sah zu, wie Kollegen aus dem Gericht zurückkamen, manche trugen Akten unter dem Arm, schleppten Aktenkisten oder zogen Klappwägelchen hinter sich her. Nach der Sitzung bei Dr. Chambers am Morgen begann sich der dicke, undurchdringliche Nebel allmählich zu lichten, der sie während der letzten achtundvierzig Stunden eingehüllt hatte. Die Dinge um sie herum ergaben wieder einen Sinn, und sie hatte eine neue Perspektive. Jetzt hatte sie ein Ziel, eine Richtung, in die sie gehen würde, selbst wenn sie sich am Ende als falsch herausstellte.
Was sie suchte, waren Antworten. Antworten auf die vielen Fragen im Cupido–Fall, die seit einem Jahr an ihr nagten. Und auf die, die sie sich selbst seit zwölf Jahren immer wieder stellte. Sie spürte den überwältigenden Drang, alles herauszufinden, alles, was es über diesen Fremden, dieses Monster zu wissen gab. Wer war Bill Bantling? Hatte er Kinder? Familie? Freunde? Wo hatte er gewohnt? Wie verdiente er seinen Lebensunterhalt? Woher kannte er seine Opfer? Wonach suchte er sie aus?
Wo war ihm Chloe Larson aufgefallen? Wie war er auf sie gekommen?
Wann war er zum Vergewaltiger geworden? Und wann ein Mörder? Gab es noch mehr Opfer? Von denen sie vielleicht noch gar nichts ahnten?
Waren ihr die anderen ähnlich?
Und dann die Frage nach dem Warum. Warum hasste er Frauen? Schlitzte sie auf und folterte sie? Nahm ihnen das Herz heraus? Warum tötete er? Und warum hatte er genau diese Mädchen ausgewählt?
Warum hatte er sich Chloe ausgesucht? Weshalb hatte er sie am Leben gelassen ?
Über zwölf Jahre und tausend Kilometer lagen zwischen ihrer Vergewaltigung und den Cupido–Morden, und doch fiel es ihr schwer, die Fragen zu trennen, die gestellt werden mussten. Die Grenzen verschwammen plötzlich, die Fälle schienen unauflösbar miteinander verwoben, verlangten die gleichen Antworten.
Wo hatte sich Bantling die letzten zwölf Jahre versteckt? Wo hatte er seinen kranken, gestörten Trieb ausgelebt? C. J. wusste aus der Erfahrung als Staatsanwältin und aus zahlreichen Seminaren und Konferenzen, an denen sie über die Jahre teilgenommen hatte, dass gewalttätige Sexualtäter nicht einfach so aus dem Nichts auftauchten. Und sie hörten auch nicht einfach mit ihren Verbrechen auf. Im Gegenteil, für gewöhnlich eskalierten sie allmählich, bis zur endgültigen Realisierung ihrer perversen sexuellen Wünsche. Manchmal entwickelten sich diese Fantasien über Wochen, Monate, sogar Jahre, bevor sie in die Tat umgesetzt wurden, und so lange war der Täter nach außen hin der nette Kerl von nebenan, der reizende Nachbar, der freundliche Kollege, der beste Ehemann, der liebste Papa. Alles passiert nur in seinem Kopf, wo keiner sieht, wie die hässlichen, zersetzenden Gedanken kochen und blubbern, bis sie schließlich überlaufen, wie Lava, und alles auf ihrem Weg verzehren. Ein «harmloser» Spanner wird zum Einbrecher. Der Einbrecher wird zum Vergewaltiger. Der Vergewaltiger wird zum Mörder. Allmählich, Schritt für Schritt setzt er
Weitere Kostenlose Bücher