Cupido #1
in einem Hotelzimmer in South Beach seine ganze Familie mit einer Schrotflinte ausgelöscht hatte. Er war nach Süddeutschland geflohen, Interpol und die deutsche Polizei trieben ihn schließlich Schnitzel essend in München auf. Christine hatte für die Auslieferung in die Vereinigten Staaten gesorgt. Über die Monate, die es dauerte, bis der Kerl endlich wieder in Miami war, hatte sich so etwas wie eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelt. Doch es war schon eine Weile her, dass sie miteinander gesprochen hatten.
Schon beim ersten Klingeln meldete sich Christines Anrufbeantworter. Auf Französisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch und glücklicherweise auch auf Englisch. C. J. sah auf die Uhr. Es war schon halbelf abends. Sie hatte völlig die Zeit vergessen. Mit der Zeitverschiebung musste es in Frankreich kurz vor Sonnenaufgang sein. C.J. hinterließ ihren Namen und ihre Nummer und hoffte, dass Christine sich an sie erinnerte.
Draußen war es dunkel, die Sonne war schon vor Stunden hinter den Everglades untergegangen, und C. J.s Büro wurde nur von der alten Schreibtischlampe erleuchtet, die ihr Vater ihr vor Ewigkeiten geschenkt hatte. Sie mochte die Behaglichkeit dieses Lichts, die grellen Neonröhren im Büro taten ihr in den Augen weh. Der Flur vor ihrer geschlossenen Bürotür lag im Dunkeln, es war längst keiner mehr da. Sie würde den Sicherheitsmann in der Lobby anrufen, damit er sie zu ihrem Wagen begleitete.
Dann sah sie noch einmal aus dem Fenster über die Straße, wo auf jedem Stock Licht brannte. Seltsame, verzweifelte Gestalten lungerten vor dem Stacheldrahtzaun herum, warteten auf ihren Freund oder ihre Freundin, ihren Zuhälter, ihren Geschäftspartner oder ihre Mutter. Streifenwagen standen vor dem Gebäude und brachten neue Insassen. Sie würden die Glücklichen ersetzen, die gegen Kaution freikamen. Irgendwo hinter den schmutzig grauen Mauern und Stahltüren, hinter den vergitterten Fenstern und dem Stacheldraht, dort, in der Obhut des Department of Corrections, saß William Rupert Bantling. Der Mann, vor dem sie zwölf Jahre lang davongelaufen war, befand sich jetzt keine fünfzig Meter von ihr entfernt. Falls er ein Fenster hatte, konnte er sie jetzt in diesem Moment sogar beobachten, genau wie er es versprochen hatte. Bei der Vorstellung überlief C. J. eine Gänsehaut, und ihr wurde kalt.
Sie wandte sich wieder dem Schreibtisch zu, wollte ihre Tasche packen und endlich nach Hause fahren. Das Licht des Bildschirms leuchtete hell im dunklen Büro. Der Bildschirm zeigte den letzten Artikel an, den Lexus/Nexus aus dem Netz gezogen hatte. Er stammte aus der New York Post. C. J. starrte auf die Zeilen, aber sie musste sie nicht lesen. Das Datum war der 1. Juli 1988. Und auch wenn die Zeitung die Identität des vierundzwanzigjährigen Vergewaltigungsopfers verschwieg, wusste C.J. nur zu gut, um wen es sich handelte.
Schnell stellte sie den Computer aus und zerrte an der Kette ihrer Schreibtischlampe. Dann legte sie den Kopf in die Hände und begann in der Dunkelheit, wo sie niemand sehen konnte, zu weinen.
35.
Schon um zehn nach acht am Freitagmorgen saß sie wieder am Schreibtisch. Wieder hatte sie unruhig geschlafen und sich mit den vertrauten, grässlichen Albträumen herumgewälzt. Also hatte sie es um fünf Uhr morgens endlich aufgegeben, war aufgestanden, hatte Sport gemacht und war dann zur Arbeit gefahren.
Außer den zwei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter in ihrem Büro hatte Dominick gestern Abend auch noch eine bei ihr zu Hause hinterlassen. Er fragte, warum sie nicht in die Gerichtsmedizin gekommen war, ob es ihr nicht gut ginge? Außerdem gab es nach dem Gespräch mit Dr. Neilson anscheinend Neuigkeiten, die den Fall betrafen, sie möge ihn bitte zurückrufen.
Seltsam. Endlich, nach all den Jahren, hatte sie einen Mann kennen gelernt, der in ihrem Leben eine Rolle spielen könnte. Mit dem sie reden konnte, mit dem sie Gemeinsamkeiten hatte und den sie vielleicht sogar irgendwann in den gut verschanzten Fuchsbau, der ihre Seele war, hereinlassen könnte. Wenn sie mit Dominick sprach, war alles so einfach. Es gab keine verkrampften Pausen. Keinen hohlen Smalltalk. Alles war echt, jedes Wort, das sie mit ihm in jedem ihrer Gespräche gewechselt hatte, selbst wenn das Thema unbedeutend war. Und vielleicht klang es albern, aber sie war jedes Mal aufgeregt, wenn sie nur seine Stimme hörte, war gespannt darauf, was er sagen, was er ihr
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