Curia
Echnaton gekannt haben musste.
Die letzten Tage des Pharaos, bevor die Amun-Priester und die Adeligen am Hof wieder die Macht übernahmen, mussten die Hölle für Echnaton gewesen sein. Wenn er etwas in einem Obelisken verstecken ließ, hatte er dies sicherlich in einem Augenblick großer Gefahr getan, als bereits alles verloren war. Was mochte er versteckt haben?
Ich konnte nicht anders handeln, Heiligster Vater. Diese Bibliothek war eine Gefahr für die Heilige Kirche. Erst jetzt, da der letzte ihrer Papyri verbrannt ist, können wir sicher sein, dass der Glaube über die Mächte des Bösen triumphiert hat.
Das Echo rhythmischer Schritte, begleitet von Trommelwirbeln, hallte in seinem Kopf wider. Vor seinem geistigen Auge zogen Bilder von Hitlers Sturmtruppen vorbei, die im Stechschritt durch die Straße Unter den Linden marschierten. Sie versammelten sich um einen brennenden Bücherberg am Opernplatz, wo Goebbels von einem Podest aus eine Rede hielt. Dann hoben sie den Arm zum Hitlergruß, brachen in ein vielstimmiges »Heil Hitler!« aus und warfen die Bücher von Einstein, Freud und Remarque in die Flammen.
Erneut betrachtete Théo die Zeichnung, die Theophilos auf der Spitze des Tempels von Serapis darstellte. Er knüllte seine Notizen zusammen. Alle Papyri verbrannt? Nein, fils de pute , alle bis auf einen.
Er holte das Buch aus der Tüte. Sein Blick verweilte auf dem Titel, Liebesgedichte von Elizabeth Barrett Browning, dann überflog er das Inhaltsverzeichnis. Er blätterte, suchte nach der Seite. » How do I love thee? Let me count the ways …« Er lehnte sich zurück, den Blick auf die dunkelgelben Sonnenstrahlen gerichtet, die durch die Wolkenbänke brachen.
Das Flugzeug holperte über die Piste, der Rumpf vibrierte, und vor den Fenstern flogen die Lichter des Flughafens Ippokratis von Kos vorbei.
Hinter der kleinen Insel Kastri tauchte die Sonnenscheibe auf und färbte das Meer mit goldenen Reflexen, die bis zum Strand von Agios Stefanos über das Wasser tanzten. Der rhythmische dumpfe Ton der Ruder begleitete das Knarren des Bootes und die aufschäumende Gischt. Théo hörte auf zu rudern. In der Stille des anbrechenden Tages hörte man nur das Wasser, das gegen die Bootswände schwappte.
Kurz vor dem Ufer sprang er ins Wasser und zog das Boot an Land. Er nahm den runden Pappbehälter, ging über den kleinen Strand und stieg einen Hang hinauf.
Dann verließ er den Pfad und wanderte über die Felsen weiter. Er blieb stehen, um nach der Klippe in Form eines Stiefels zu suchen. Da war sie. Den Behälter unter einen Arm geklemmt, sprang er von Stein zu Stein, bis er eine steil über dem Meer aufragende Klippe erreichte. Er nahm einen tiefen Atemzug, den Geschmack der salzigen Luft auf der Zunge. Zwei silberhelle Stimmen übertönten die Brandung.
»Na, wer springt als Erster?« Vanko, der in seinem blauen Badeanzug fast verschwand, hüpfte wie ein Frosch bis zur Klippe.
»Du weißt doch, dass Großvater das nicht will«, rief Théo. »Ich sag’s ihm!«
»Dann sag ich ihm, dass du in seinem Büro heimlich die Pfeife rauchst. Und das mit den eingelegten Kirschen erzähl ich ihm auch. Ich hab dich nämlich gesehen!«
»Immer musst du petzen! Dabei bist du erst sechs. Und ich Dummkopf verrate dich nie, wenn von den Loukoumi in Rum welche fehlen.« Théo zielte mit einer Hand auf ihn. »Pass auf, dass dir das nicht noch mal passiert!«
Vanko steckte sich einen Finger in den Mund, das Kinn gesenkt, die Augen zum Himmel gerichtet. »Ich hab’s nicht ernst gemeint …«
»Schon gut … ich auch nicht«, sagte Théo schuldbewusst.
»Aber jetzt spring ich.« Vanko nahm Anlauf.
»Gemeiner Heuchler!« Théo versuchte, ihn am Arm zu packen.
»Und du bist ein Feigling!« Vanko machte einen Kopfsprung ins Wasser und verschwand in einem Wirbel aus weißem Schaum, dann flitzte seine schimmernde Silhouette unter dem Wasserspiegel dahin.
Vankos Silhouette verschwand, und das Wasser wurde wieder durchsichtig. Théo öffnete den Behälter und zog die Urne heraus. Er riss das Klebeband ab, hob den Deckel und trat an den Rand der Klippe. Sein Blick wanderte zu den Ruinen der christlichen Basilika hinter dem Strand, folgte den Hängen des Dikaios-Bergs und verlor sich im Grün der Olivenhaine, zwischen denen die weißen Häuser von Asfendiou lagen. Er drehte die Urne um.
Vankos Asche wurde von der leichten Brise ergriffen, wirbelte durch die Luft, als wollte sie dem Unbekannten nachjagen, und wurde
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