Curia
Psychiatry‹. Heute Abend wird sie über ein ungewöhnliches, aber faszinierendes Thema sprechen: ›Bibel, Mythen und Jung’sche Archetypen. Moses: Mythos oder Wirklichkeit?‹. Bitte sehr, Frau Doktor Belmont.«
Die Lichter wurden gedimmt, der Bildschirm auf der Bühne erhellte sich, und drei Bilder erschienen: ein Foto von Freud, Michelangelos Moses-Statue und eine Büste des Pharaos Echnaton, den man an seinen unverwechselbaren Zügen erkannte. Durch den Saal ging ein aufgeregtes Murmeln.
»Mesdames et messieurs, bonsoir«
Freud wünschte, dass sein letztes Buch, Der Mann Moses und die monotheistische Religion , das 1939, wenige Monate nach seinem Tod, erschien, als sein geistiges Vermächtnis angesehen würde. Das Werk erregte den Zorn der Juden auf der ganzen Welt. Sie nannten Freud einen Verräter an seinem Volk, denn er nehme ihnen ihren Gott, ihren wichtigsten Propheten und ihre nationale Identität. Wie erklärt sich diese Empörung?
Freud schrieb, dass Moses ein Ägypter gewesen sei, ein Anhänger des Aton-Kultes, der vom Pharao Echnaton gegründeten monotheistischen Religion, und dass der jüdische Monotheismus Jahwes derselbe sei wie der Echnatons. Zu dieser Religion habe der Ägypter Moses die Juden bekehrt, als er sie aus Ägypten führte. Freud schrieb außerdem, dass der biblische Jahwe die mythische Verkörperung eines grausamen, herrschsüchtigen Vulkangottes sei, der von einigen Nomadenstämmen in der Gegend Midian im Norden des jetzigen Saudi-Arabien verehrt wurde.
Wie war Freud zu diesen Schlussfolgerungen gelangt? Weder über die Geschichte noch über die Religion. Freud ging von einer philologischen Beobachtung aus: Moses war ein ägyptischer, kein hebräischer Name. Das ägyptische Wort ›mose‹ bedeutet nämlich ›Sohn von‹ und wurde früher sehr vielen Eigennamen angehängt, wie Thut-mose, Ra-mose, Ptah-mose und so weiter. Im alten Ägypten setzten die Eltern vor das Wort ›mose‹ gerne den Namen eines Gottes, damit ihre Söhne ›Sohn von Thoth‹ oder ›von Ra‹ oder ›von Ptah‹ hießen. Als Echnaton das ägyptische Pantheon verbannte, indem er Aton, den Sonnengott, als einzigen Gott verehren ließ, mussten alle, die eine der alten Gottheiten im Namen trugen, diese tilgen, sodass ihr Name zu einem einfachen ›Msy‹ wurde, dem ägyptischen Wort für ›Mose‹.
Nach der philologischen machte Freud eine psychologische Beobachtung. Sie basierte auf einer Analyse der Traumata des kollektiven Unbewussten und konzentrierte sich auf den Mythos vom Helden. Freud untersuchte die Traditionen verschiedener Völker und zeigte, dass alle, ob Hochkultur oder Stammesgesellschaft, ihre Ursprünge mithilfe eines Heldenmythos idealisiert hatten, wobei diese Helden Könige, Propheten, Heilige oder Reichsgründer sein konnten.
Das Muster des Heldenmythos ist bekannt: Der Held ist adeliger Abstammung, wird nach der Geburt ausgesetzt und von einfachen Menschen gerettet, die ihn aufziehen. Später entdeckt der Held seine wahre Herkunft, überwindet eine Reihe von Widerständen und vollbringt eine heldenhafte Tat, wie ein Volk von Unterdrückung zu befreien oder ein Reich zu gründen. Die Liste der Helden ist lang, doch um ein paar Namen zu nennen, erinnere ich an Sargon, Gilgamesch, Cyrus, Ödipus, Telephos, Zethos, Herkules und Romulus und Remus. Der erste in der Reihe ist Sargon, Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus. Als Frucht der unerlaubten Liebe einer Priesterin wurde Sargon in einem Weidenkörbchen auf dem Euphrat ausgesetzt, vom Gärtner des Königs gerettet und am Königshof erzogen, um als erwachsener Mann nach vielen siegreichen Kämpfen das akkadische Reich Mesopotamien zu gründen.
Moses war eine umgekehrte Variante des klassischen Musters, denn die jüdische Mythologie will, dass er als Kind jüdischer Sklaven geboren, von der Tochter des Pharaos aus dem Fluss gerettet und zu einem ägyptischen Prinzen gemacht wird.
Die Psychoanalyse deutet die Aussetzung in einem Korb als eine symbolische Darstellung der Geburt, wobei der Korb den Uterus und die Wasser des Flusses das austretende Fruchtwasser versinnbildlichen. Mit der Rettung Mose aus dem Fluss hat das kollektive Unbewusste des jüdischen Volkes seine eigene Geburt verknüpft, so wie es den Erwerb einer nationalen Identität mit dem Mythos vom Auszug aus Ägypten verknüpft hat …«
Als der Vortrag beendet war, brandete Beifall auf, der sofort von Pfiffen und Protestrufen übertönt wurde.
»Wie ist Freud
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