Curia
dazu gekommen, den Monotheismus Mose mit dem von Echnaton gleichzusetzen?«, fragte ein Journalist. »Niemand hat je bewiesen, dass Moses und Echnaton Zeitgenossen waren.«
»Das stimmt. 1939 war das eine revolutionäre Hypothese«, sagte Doktor Belmont. »Freud kam zu diesem Schluss, nachdem er den Monotheismus Echnatons und den jüdischen analysiert hatte und zeigen konnte, dass sie übereinstimmen.«
»Können Sie uns ein Beispiel nennen?«
»Natürlich. Das Schema , das jüdische Glaubensbekenntnis, lässt sich bekanntlich mit einem Passus der Bibel zusammenfassen: › Sh-ma Yisroael, Adonai elohaynu, Adonai echud ‹, ›Höre, Israel. Der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer.‹ Aber Freud wies darauf hin, dass ›Adonai‹ nichts anderes ist als die Umschrift des hieratischen Hieroglyphen für das Wort ›Aton‹, sodass die hebräische Formel sich auch lesen lässt als: ›Höre, Israel. Aton ist unser Gott, Aton ist einer.‹«
Eine Welle ärgerlichen Gemurmels lief durch den Saal.
»Ich bin Psychiater und gläubiger Jude«, rief ein bärtiger Mann, der mit hochrotem Kopf aufsprang. »Freuds Behauptungen haben nicht die geringste Schlüssigkeit, weder in historischer noch in archäologischer oder psychologischer Hinsicht. Wenn Freud nicht mehr an die Heilige Schrift glaubte, warum musste er darüber noch ein Buch schreiben? Warum sagt er nicht einfach, dass er nicht mehr glaubt?«
»Freud hat die Thora als Wissenschaftler analysiert und alle religiöse Überzeugung beiseitegelassen. Er stützt sich ausschließlich auf die Psychoanalyse, wenn er nachweist, dass der Mythos von Moses, Jahwe und dem auserwählten Volk Ausdruck der kollektiven Neurose des israelischen Volkes ist, das versucht hat, seine Ursprünge zu adeln, um einen vererbten Schuldkomplex zu überwinden …«
»Hören Sie, meine Dame«, schrie jemand aus dem Hintergrund des Saals, »ich bin weiterhin davon überzeugt, dass die Thora Moses von Gott selbst diktiert wurde und dass Moses persönlich sie niedergeschrieben hat.«
»Werter Herr, dann empfehle ich Ihnen, Ihre Überzeugungen im Licht der Tatsachen zu überprüfen. Die Forscher haben zahlreiche Anachronismen und Widersprüche in der Thora gefunden und gezeigt, dass Moses sie nicht geschrieben haben kann, und zwar unabhängig davon, wer er war.«
»Ach ja? Wer hat sie denn dann geschrieben? Das Unterbewusste von Freud?«
»Jeder Wissenschaftler wird Ihnen bestätigen, dass die Thora und die gesamte hebräische Bibel von mehreren anonymen Verfassern viele Jahrhunderte nach dem Ende der biblischen Zeit geschrieben wurde, zwischen dem siebten und dem sechsten Jahrhundert vor Christus.«
»Wie sind die Forscher zur Festlegung dieses Zeitraums gelangt?«, fragte der Journalist.
»Durch die archäologischen Ausgrabungen der letzten dreißig Jahre. Außerdem anhand einer computergestützten Untersuchung des biblischen Hebräisch und des Hebräischen späterer Epochen. Um Ihnen eine Vorstellung zu geben: Das biblische Hebräisch und das der Thora unterscheiden sich etwa so stark voneinander wie das Altokzitanische vom heutigen Französisch.«
»Sie haben gesagt, Freud wünschte, dass Der Mann Moses und die monotheistische Religion als sein geistiges Vermächtnis angesehen würde«, fragte der Journalist. »Warum?«
»Weil Freud uns mit diesem Buch zwei große Botschaften hinterlassen hat. Die erste ist, dass individuelle Neurosen ihre Entsprechung in Gruppenneurosen haben; die zweite, dass die gesamte abendländische Kultur von einem Buch geprägt wurde, der hebräischen Bibel, das nichts anderes ist als ein Mythos, geschaffen von einem Volk, das sich damit vor einem vererbten Schuldkomplex schützen wollte.«
Im Publikum standen einige Zuhörer auf, und Protestrufe vermischten sich mit erneutem Beifall.
Théo ging auf das Büfett zu, wo Raisa an einem Cocktail nippte. »Man kann wirklich nicht behaupten, dass man sich auf deinen Vorträgen langweilt, Raisa.«
Raisa drehte sich um, und ihre Miene hellte sich auf. »Théo, welch eine Freude …« Sie wurde ernst. »Es tut mir wirklich sehr leid wegen Vanko.«
»Danke. Auch für die Karte.« Er bedauerte, dass er sie nicht angerufen hatte, und wollte ihren Arm drücken, hielt sich aber zurück. »Hast du hinterher noch etwas vor?«
»Nein. Warum?«
»Ich muss mit dir sprechen. Es ist wichtig. Wollen wir etwas zusammen trinken?«
»Mit Vergnügen.«
Théo und Raisa betraten ein Bistro im Quartier Latin, setzten sich in ein
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