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Cut

Cut

Titel: Cut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kroeger
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überanstrengt. Das merkwürdige Gefühl in seinem Kopf machte es ihm immer schwerer, klare Gedanken zu fassen und sich zu orientieren. Er wusste, dass er nicht rational, sondern intuitiv handelte, und er fühlte sich äußerst unwohl dabei. Als Anhänger von Darwin und Lorenz hatte ihn immer die Logik tierischer und menschlicher Verhaltensweisen fasziniert. Danach hatte er auch sein eigenes Handeln ausgerichtet. So etwas wie menschliche Unberechenbarkeit beruhte seiner Meinung nach ausschließlich auf Planungsfehlern.
    Er nahm das Buch und schlurfte Richtung Küche. Charlotte hatte für ihn vorgekocht. Das Essen stand im Backofen. Er brauchte ihn nur noch einzuschalten. Während er wartete, blätterte er vor bis zu einer doppelseitigen Skizze der Vogelfluglinie. Vielleicht interessierten ihn auch die Vögel, weil sie sich in seinen Augen so absolut logisch verhielten. Sie folgten Jahr für Jahr exakt der gleichen Route, egal was in der Welt um sie herum geschah. Sie lebten logisch, sie ernährten sich logisch, sie pflanzten sich logisch fort und sie starben logisch.
    Sein Gehirn hängte sich an diesem letzten Gedankengang auf und wiederholte ihn mechanisch wie eine alte Spieluhr. Der Kopf dröhnte. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, den Tisch zu decken. Wenn er Glück hatte, war es bald vorbei. Charlotte würde zurückkommen und die Göre würde aufgeben. Vielleicht konnte er dann endlich schlafen.
    Er musste schließlich doch kurz weggenickt sein, denn als er wieder wach war, hörte er die Tür gehen. In der Küche roch es angebrannt.
    Charlotte kam herein. Verwundert sah er zu ihr auf, denn sie verlor kein Wort über den Geruch und flatterte auch nicht wie sonst aufgeregt um ihn herum. Sie ging einfach zum Backofen, stellte ihn aus und setzte sich zu ihm an den Küchentisch.
    »Charlottchen! Da bist du ja wieder. Es tut mir Leid.« Er deutete auf den Backofen.
    Sie schien etwas sagen zu wollen, aber stattdessen stand sie auf und ging hinaus. Einen Augenblick später kam sie wieder, mit einem gerahmten Foto in der Hand.
    »Du hast mir nie erzählt, dass euer Kamerad Rajiv Kher hier in Hamburg ermordet wurde. Ich bin mir sicher, du hast es auch Vater nicht erzählt, denn sonst hätte er darüber gesprochen. Er hatte keine Geheimnisse vor mir.« Gedankenverloren strich sie über das Foto.
    Ludwig griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Charlottchen«, sagte er müde, »ich wollte euch die schreckliche Nachricht ersparen. Albrecht war schon krank, wie du weißt.«
    Sie sah ihn an. »Wenn ich dir nur glauben könnte. Aber es scheint noch jemand in die Sache verwickelt zu sein, nämlich der Vater von Madita, Anand Kumar. Jetzt fährt sie sogar nach Bombay, um ihn zu suchen.«
    »Kumar? Was hat denn der damit zu tun?« Er versuchte, seine Stimme echt klingen zu lassen, aber er konnte nicht verhindern, dass sein Griff sich fester um ihr Handgelenk schloss.
    »Ludwig, du tust mir weh!« Ihre Stimme klang schrill und hallte in seinen Ohren wider.
    Sie versuchte ihre Hand wegzuziehen, aber statt loszulassen packte er noch fester zu. »Charlottchen, du bist mein Ein und Alles, du musst mir glauben«, murmelte er beschwörend. Das geliebte Gesicht ihm gegenüber war zu einer ängstlichen Grimasse erstarrt.
    Was tat er nur? Endlich stellte sich in seinem Kopf wieder Klarheit ein. Augenblicklich ließ er ihre Hand los. Die nachlassende Anspannung brachte sie irgendwie aus dem Gleichgewicht. Sie kippte mitsamt dem Küchenstuhl, auf dem sie gesessen hatte, nach hinten weg und verschwand aus seinem Blickfeld. Es gab einen fürchterlichen Krach. Dann war es still, ganz still.
    Vorsichtig stand er auf und ging um den Tisch herum. Sie war mit dem Kopf auf die harten Fliesen aufgeschlagen. Ihr Körper lag wie hingegossen über der Stuhllehne.
    »Charlottchen, was ist mit dir? Du musst aufpassen, du bist so zerbrechlich, was hast du dir nur dabei gedacht?«
    Er strich ihr die blonden Löckchen aus dem Gesicht und nahm ihre Hand, um den Puls zu fühlen. Kein Puls. Dann nahm er sie auf den Arm. Vorsichtig trug er sie zu ihrem Lieblingssessel mit dem Seeblick und setzte sie hinein.
    Sie würde später wieder aufwachen. Sie würde hier sitzen und ihre schönen Scherenschnitte machen. Sie würde auf ihn warten, bis er zurück war. Er musste diese Angelegenheit so schnell wie möglich zu Ende bringen, damit es nie wieder Streit zwischen ihnen gab.
    »Bombay«, murmelte er leise vor sich hin. Madita wollte nach Bombay. Er würde

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