Cut
verschwand er über einen Flur im Halbdunkel seiner Kaschemme.
»Brown Sahib!«, zischte ihm Cal hinterher. Mit einer entschuldigenden Geste wandte er sich an den Europäer. »Sorry«, sagte er auf Englisch, »aber wir haben hier in Indien ein kleines Problem, das wir im Allgemeinen unser koloniales Erbe nennen.«
49 Marionetten
Hinnarck stand an der Spüle und wusch ab.
Wie immer am Tag nach einem Anfall schien es Emma besser zu gehen. Sie hatte ihm zum Mittagessen Kotelett mit Kartoffeln und Bohnen gekocht. Das Fleisch war nicht ganz durch und die Kartoffeln fielen auseinander und schmeckten nach nichts, aber für ihn war es ein Festessen.
Sie waren ein Ehepaar im Ruhestand.
Seine Frau kochte für ihn.
Alles war fast normal.
An solchen Tagen hätte Hinnarck gern die Zeit angehalten.
Jetzt saß Emma wieder auf ihrem Lieblingsplatz, aber sie stierte nicht wie sonst aus dem Fenster, sondern folgte aufmerksam seinen Bewegungen. Er trocknete den letzten Teller ab und schüttelte das Handtuch aus, um es zum Trocknen über die Heizung zu hängen.
»Die Tabletten, Hinnarck. Sind alle.«
Erstaunt sah er zu ihr hinüber. Sie hielt ihm ihr leeres Pillendöschen hin. Er hatte es sich angewöhnt, die Tabletten immer abzuzählen, damit er sofort merkte, wenn sie mehr als drei pro Tag eingenommen hatte. Es mussten mindestens noch vier Tabletten übrig sein.
Misstrauisch sah er sie an, aber sie wirkte nicht, als hätte sie zu viele genommen. Im Gegenteil, sie war so lebendig wie schon lange nicht mehr. Ihre Augen hatten einen hellen Glanz und waren nicht wie so oft von einer Art Schleier überzogen.
»Alle«, sagte sie noch einmal nachdrücklich.
Seufzend stand er auf. Wahrscheinlich hatte er den Besuch bei Charlotte einfach wieder zu lange hinausgeschoben. Natürlich hätte er das Rezept auch bei Emmas behandelnden Ärzten in der Hamburger Klinik holen können, aber er wurde die Angst nicht los, dass sie sie ihm wieder wegnehmen könnten, wenn sie mal nicht gut drauf war. Er wusste, dass sie dort unglücklich war.
Also fuhr er einmal im Monat zu Charlotte, und die stellte ihm das Rezept aus. Dafür musste er dann immer auf eine Tasse Kaffee dableiben. Charlotte zwitscherte unaufhörlich um ihn herum. Ihr so genannter Freund sagte kein Wort und starrte die ganze Zeit durch sein Fernglas auf den See. Worüber sollte der Herr Biologe auch mit einem einfachen Monteur reden.
»Ich komm mit zu Charlotte«, sagte Emma plötzlich, und zwar so laut, dass er vor Schreck vergaß, worüber er gerade nachgedacht hatte.
»Aber du wolltest nicht mehr zu ihr seit …« Hinnarck wollte sie lieber nicht daran erinnern. Charlottes Geburtstagskränzchen vor – er rechnete nach – es musste schon bald zehn Jahre her sein. Emma zuliebe war er mitgegangen. Es war sogar ganz amüsant gewesen, bis plötzlich dieser alte Hauser hereingeplatzt war mit einem Strauß roter Rosen und ihr stammelnd seine Liebe gestanden hatte. Hinnarck schüttelte es noch. Peinlich war das gewesen, die reinste Gefühlsduselei. Und Charlotte hatte ihn angestarrt wie ein Backfisch. Zu allem Übel hatte auch noch Emma direkt neben Hinnarck am Kaffeetisch einen schlimmen Weinkrampf bekommen und er hatte sie unter den mitleidigen Blicken der anderen nach draußen tragen müssen.
Als er sie damals aus dem Krankenhaus abholte, riet der Professor ihm zur Frühpensionierung, wenn er Emmas Einweisung in die Geschlossene wegen akuter Suizidgefahr verhindern wollte.
Hinnarck hatte aufgehört zu arbeiten.
»Jetzt will ich aber!« Ihr Gesicht war ganz rot vor Aufregung. »Muss mit Charlotte reden. Madita sucht das Schiff. Darf nicht – Madita darf nichts passieren. Nicht zulassen, nein. Das große grüne Auto ist weggefahren.«
Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie meinte. Hinnarck wusste nur, dass es ziemlich ungemütlich werden konnte, wenn er ihr jetzt widersprach und sie ohne Tabletten dasaßen. Gab er nach und nahm sie mit, konnte er diesen friedlichen Tag vielleicht noch retten.
Ohne weitere Worte half er ihr vom Stuhl hoch, nahm ihren Arm und brachte sie langsam in die Gänge Richtung Flurgarderobe.
Beinahe hätte er eine alte Frau umgefahren, die ängstlich einen Zebrastreifen überquerte. Und wenn schon. Ludwig fühlte sich wie gefangen in einer irrealen Kulisse, in der er sich mechanisch bewegte. Wie eine Marionette seiner eigenen Szenarien, die er in schlaflosen Nächten ausgebrütet hatte. Er verspürte vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben
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