Cyber City
hätte sie auch so egoistisch sein können, ihnen dieses großartige Wiedersehen vorzuenthalten?
Maria schob sich durch die Menge, begrüßte Leute, von deren Existenz sie noch nie gehört hatte. Hübsche Vettern siebten Grades mit großen dunklen Augen küßten ihr die Hand und flüsterten ihr Komplimente ins Ohr, auch wenn sie den seltsamen, doch wohlklingenden Dialekt, den sie sprachen, kaum verstand. Verschleierte Witwen in eleganten schwarzen Kleidern standen neben ihren auferstandenen Ehemännern. Kinder wuselten zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch, stibitzten die besten Essenshappen und stopften sie sich in den Mund, während sie weiterrannten.
Auch die Neurologin der Klinik erwies sich als eine entfernte Verwandte. Maria formte die Hände zu einem Trichter, um den Lärm zu übertönen, und rief ihr zu: »Ist mein Scan denn schon fertig? Wird sich meine Kopie an das hier erinnern können?« Die Neurologin machte ihr geduldig klar, daß der Scan nur Gedächtnisinhalte erfaßte, die dauerhaft als Modifikation von Synapsen gespeichert waren; die flüchtige elektrische Aktivität eines solchen Traums würde dagegen für immer verloren sein. Geheimnisvoll fügte sie hinzu: »Verloren für immer und für jeden, der ihn nicht geträumt hat.«
Maria fühlte, daß sie kurz vor dem Wachwerden stand. Mit einem Mal fürchtete sie, selbst die Kopie zu sein, und kämpfte darum, weiterzuträumen – als könnte sie sich einen Weg zurück durch die Menge bahnen, dem Traum eine neue Richtung geben und einen anderen Ausgang finden. Aber die Eindrücke um sie herum verblaßten und wurden immer unglaubwürdiger – immer deutlicher spürte sie die Präsenz ihres erwachenden Körpers: ihre schmerzenden Schultern, die geschwollene Zunge.
Sie öffnete die Augen. Sie lag allein im geschmackvoll eingerichteten Aufwachzimmer der Landau-Klinik; sie kannte den Raum, man hatte sie vor der Narkose hineingerollt, damit sie die Umgebung wiedererkannte, in der sie erwachen würde. Es dauerte eine Weile, bis die Eindrücke des Traums verschwunden waren und die Realität sich durchgesetzt hatte. Ihr Vater war tot. Die Großeltern waren tot. Es gab kein Wiedersehen, kein großes Familientreffen …es würde nie eines geben.
Und was die Kopie betraf … auch ihre Scan-Datei war noch nicht fertig. Es würde Stunden dauern, die rohen Tomographiedaten auszuwerten und eine hochaufgelöste anatomische Karte fertigzustellen. Und selbst dann konnte sie ihre Meinung immer noch ändern und Durham die Daten vorenthalten. Er hatte den Scan in der Klinik für sie bezahlt, aber er konnte nichts machen, wenn Maria sich weigerte, ihm die fertige Scan-Datei zu übergeben.
Das Aufwachzimmer war in mildes Licht getaucht, die Wände waren mit blauen und orangefarbenen geruchlosen Blumen geschmückt. Maria schloß die Augen. Wenn Durham mit seiner Theorie recht hatte, dann mußten ihre Rohdaten wahrscheinlich nicht erst bearbeitet werden – sie würden das alleine erledigen. Das Bewußtsein dahinter fand von alleine zu sich selbst. Wie eine Kopie, die man »in Scheibchen« zerlegt und nach dem Zufallsprinzip wieder zusammengesetzt hatte. Man mußte nicht warten, bis es ein komplettes, funktionsfähiges Modell gab.
Sogar der Scan war überflüssig; es gab sie schon, genau diese Daten, irgendwo, irgendwie über das Universum zerstreut – ob man sie ihrem Gehirn entnommen hatte oder nicht. Sie mußten auch nicht zu einem Ganzen – oder was sie dafür hielt! – zusammengesetzt werden.
Tatsächlich, wenn Durham recht hatte – wenn die Ereignisse, von denen er glaubte, daß sie in seinem TVC-Universum stattfanden, sich selbst aus verstreutem Staub organisierten – dann würden diese Ereignisse auch stattfinden, in jedem Fall. Es würde keine Rolle spielen, was jemand in dieser Welt unternahm. Das ganze Garten-Eden-Projekt wäre überflüssig. Jede Permutation des Staubes wäre imstande, sich selbst Gestalt zu geben, sich Sinn zu geben, einfach so. Und mit einer Weigerung, sich scannen zu lassen, hätte sie nichts weiter erreicht außer der Permutation jener Maria eine Vergangenheit zu verweigern, die sich mit ihrer eigenen überlappte. Während eine andere, dritte Maria – in einer anderen Welt, einer anderen Permutation – die ihr zugedachte Rolle spielen würde.
Maria öffnete die Augen. Eben war ihr eingefallen, was sie sich für den Augenblick des Erwachens vorgenommen hatte. Jeder Scanner war darauf programmiert, vier oder fünf spezielle
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