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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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Inventarliste aller Moleküle aufgeführt war, und diese verkörperte die letzte, endgültige »Wahrheit«. Die »endgültige Wahrheit« im Autoversum mußte man an anderer Stelle suchen. Sie lag in den Grundbausteinen des Modells verborgen: eine immense Anhäufung kubischer Zellen subatomarer Größenordnung – die primäre Software befaßte sich ausschließlich mit diesen Zellen, ohne größere, übergeordnete Strukturen überhaupt in Betracht zu ziehen. Am ehesten ließen sich die Atome des Autoversums noch mit einem Hurrikan in einem Modell der Erdatmosphäre vergleichen (wenn sie in ihrem Verhalten auch viel stabiler waren) – sie entstanden anhand fundamentaler, unbeschränkt gültiger Regeln aus den einfachsten Elementen des Systems. Es war nicht nötig, ihr Verhalten explizit zu berechnen. Die fundamentalen Gesetze, denen die einzelnen Zellen gehorchten, legten auch alles fest, was auf höheren Ebenen geschah. Natürlich hätte man auch bei diesem Modell einen ganzen Schwarm Maxwellscher Dämonen zu Hilfe rufen können, damit sie Atome und Moleküle zählten und für Übersicht sorgten – was gewaltigen zusätzlichen Rechenaufwand bedeutet hätte, der in keinem Verhältnis zum Nutzen stand. Das Autoversum selbst hätte sich davon nicht im geringsten beeindrucken lassen.
    Maria fixierte das Mutose -Molekül in ihrem Blickfeld, startete dann die Zeit erneut, und alles andere außer dem einen hexagonalen Ring verschwamm durch die Eigenbewegung wie hinter einem dünnen Nebelschleier. Ein spezieller Darstellungsmodus – der für die oszillierenden Atome eine mittlere Position zwischen den Punkten maximaler Auslenkung errechnete und die Auslenkung selbst durch schwache Schatten andeutete – sorgte dafür, daß die Mutose weiterhin sichtbar blieb.
    Maria vergrößerte den Maßstab erneut, bis das Molekül die ganze Arbeitszone füllte. Sie hätte nicht sagen können, was sie eigentlich zu sehen hoffte: ein Epimerase-Enzym, das Produkt einer endlich erfolgreichen Mutation, an dem das Zuckermolekül andockte und das die störende blau-rote Gruppe zurechtrückte? … Abgesehen davon, wie unwahrscheinlich das war – das Ganze wäre schon vorbei, bevor sie gemerkt hätte, was passierte. Sie löste das Problem, indem sie MAXWELLs DÄMON die Anweisung gab, einen Pufferspeicher bereitzustellen, der das Molekül für die nächsten paar Millionen Rechentakte protokollierte und sich melden würde, wenn sich an der Struktur etwas änderte.
    Auch im »lebenden« Organismus von A. lamberti sah der Mutose -Ring genauso aus wie jener Prototyp, den sie Minuten zuvor geschaffen hatte: rote, grüne und blaue Billardkugeln, die durch dünne weiße Stäbe miteinander verbunden waren. Selbst für ein Bakterium schien es ihr wie eine Beleidigung, daß es aus solchen Molekülkarikaturen aufgebaut war. Die Grafiksoftware überwachte fortwährend den winzigen Ausschnitt des Autoversums: sie identifizierte einzelne Atome, kontrollierte ihre Bindungen untereinander, indem sie Abstand und Schwingungsverhalten untersuchte – und konstruierte aus diesen Daten ein hübsches, schematisches Bild. Eine nützliche Fiktion, die Täuschung begann nicht erst dort, wo aus dem Hologramm ein fester Körper zum Anfassen wurde …
    Maria verlangsamte die Zeit im Autoversum um den Faktor zehn hoch zehn, dann rief sie das Grafikmenü auf und tippte auf das Sensorfeld mit der Aufschrift ROHDATEN. Das ordentliche Modell aus Kugeln und Stäbchen zerfloß zu einem gezackten, schwingenden Band, das in den Farben flüssigen Metalls leuchtete. Farbflecke waberten hin und her, kollidierten, verschmolzen und trennten sich wieder, und bunte Zungen leckten in alle Richtungen, als wollten sie die Umgebung erkunden.
    Noch einmal verlangsamte sie die Zeit um den Faktor einhundert. Das wilde Durcheinander kam fast zum Stillstand, dann vergrößerte Maria das Bild um den gleichen Faktor. Jetzt endlich waren die einzelnen kubischen Zellen erkennbar, aus denen das Autoversum aufgebaut war; bei dieser Zeitauflösung wechselten sie ihren »Zustand« nur noch einmal in der Sekunde. Jeder dieser Zustände – ausgedrückt durch eine ganze Zahl zwischen null und zweihundertfünfundfünfzig – wurde pro Zeittakt einmal neu berechnet. Die Berechnung folgte einem einfachen Satz von Regeln, die den vorangegangen Zustand einer Zelle sowie den ihrer unmittelbaren Nachbarn in der dreidimensionalen Gitterstruktur berücksichtigten. Das Autoversum war nichts anderes als ein

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