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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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wandten sich der nächsten zu.
    Als sie verschwunden waren, blieb er sitzen und wartete. Das Gras war weich, der Himmel hell, die Luft ruhig. Er ließ sich nicht täuschen. Es hatte schon früher Augenblicke wie diesen hier gegeben: Momente, in denen sich die Stille näherte. Sie bedeuteten nichts, kündigten nichts an, änderten nichts. Es würde immer eine nächste Vision des Zerfalls geben, einen neuen Alptraum der Verstümmelung. Und eine neue Rückkehr nach Hamburg.
    Er kratzte die weiche Haut an seinem Bauch; die letzte Zahl, die er eingeritzt hatte, war schon ewig verheilt. Seither hatte er seinen Körper in tausend Stücke zerschnitten. Er hatte seine Handgelenke aufgeschlitzt, seine Kehle durchschnitten; er hatte seine Lunge durchbohrt, die Oberschenkelarterien aufgeschnitten. Zumindest glaubte er das; es waren keine Beweise seiner Verletzungen geblieben.
    Die Stille seines Garten begann an seinen Nerven zu zerren. Der Szene haftete eine Leere an, die er nicht durchdringen konnte; es war, als starrte er auf ein unverständliches Diagramm oder ein abstraktes Gemälde, das er nicht zu analysieren vermochte. Als er über den Rasen blickte, zerflossen die Farben und Texturen vor ihm plötzlich in völlig bedeutungslose Flecken aus Licht. Nichts hatte sich bewegt, nichts hatte sich verändert – nur seine Fähigkeit, die Anordnung von Licht und Farben zu interpretieren, war verschwunden; der Garten hatte aufgehört zu existieren.
    Panik stieg in Thomas auf. Blind tastete er nach der Narbe auf seinem Unterarm. Als seine Finger sie berührten, war die Welt ringsumher plötzlich wieder da. Er saß bewegungslos und wartete auf das, was als nächstes geschehen würde, aber der dunkelgrüne Sprenkel in seinen Augenwinkeln blieb weiter ein Brunnen, und die weite blaue Fläche über ihm blieb der Himmel.
    Er rollte sich im Gras zusammen, strich über seine tote Haut und sang leise vor sich hin. Er war sicher, daß er vor langer Zeit einmal die Narbe herausgeschnitten hatte; die neue Wunde, die er so geschaffen hatte, war ohne Narbe verheilt – aber die ursprüngliche blasse weiße Linie war wieder durchgekommen, an genau der gleichen Stelle wie zuvor. Es war mittlerweile das einzige Zeichen seiner Identität geworden. Wenn er in die Spiegel im Innern des Hauses blickte, sah er ein nicht wiederzuerkennendes Gesicht. Sein Name war ein bedeutungsloses Schema aus Klängen. Aber wann auch immer er das Gefühl für sich selbst zu verlieren begann – er mußte nur die Narbe berühren, und alles, was seine Person ausmachte, war wieder da.
    Er schloß die Augen.
    Er tanzte mit Anna in der Wohnung. Sie stank nach Alkohol, Schweiß und Parfüm. Er war bereit zu fragen, ob sie ihn heiraten würde; er spürte, wie der Moment sich näherte, und er erstickte fast vor Furcht und Hoffnung.
    Er sagte: »Mein Gott, bist du schön!«
    Bring mein Leben in Ordnung. Ohne dich bin ich nichts: nur Fragmente aus Zeit, Fragmente aus Worten, Fragmente aus Gefühlen. Gib meinem Leben Sinn. Mach mich zu einem Ganzen.
    Anna sagte: »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Ich habe den ganzen Tag gebraucht, um meinen Mut zusammenzunehmen.«
    »Alles was du willst.«
    Laß mich dich verstehen. Laß mich dich zusammenhalten. Laß mich dir helfen, dich selbst zu finden.
    »Es geht um … einen Freund von mir. Er hat eine ganze Menge Bargeld. Fast zweihunderttausend Mark. Er braucht jemanden, um …«
    Thomas wich einen Schritt zurück und gab ihr eine heftige Ohrfeige. Er war entsetzt. Er hatte sie noch nie vorher geschlagen, der Gedanke daran war ihm völlig fremd. Sie bearbeitete seine Brust und sein Gesicht mit den Fäusten; er stand da und ließ sie eine Weile gewähren. Dann packte er ihre Handgelenke.
    Sie rang nach Luft. »Laß mich los!«
    »Es tut mir leid.«
    »Dann laß mich los!«
    Er hielt sie weiter fest. Er sagte: »Ich bin nicht dazu da, für deine Freunde Geld zu waschen.«
    Sie lächelte ironisch. »Oh, was habe ich nur getan? Deine hohen moralischen Prinzipien in den Schmutz gezogen? Es war nur eine Frage. Du hättest dich nützlich machen können. Vergiß es, ich hätte wissen müssen, daß es zuviel verlangt ist.«
    Er zog sie näher an sich heran. »Wo wirst du in zehn Jahren sein? Im Gefängnis? Auf dem Grund der Elbe?«
    »Du kannst mich mal.«
    »Wo? Sag es mir!«
    Sie sagte: »Es gibt Schlimmeres. Ich könnte mich mit einem Bankier im mittleren Alter verheiratet wiederfinden und die glückliche Ehefrau spielen.«
    Thomas

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