Cyber City
dabei, ob es noch Sinn machte – aus moralischen oder welchen Gründen auch immer –, Vegetarier zu bleiben.
Bis lange nach Mitternacht hörte er Musik. Tsang Chao, Michael Nyman, Philip Glass. Es machte keinen Unterschied, daß jede Note »in Wirklichkeit« siebzehnmal länger dauerte, als sie gedacht war – oder daß das Audio-ROM im Abspieler »in Wirklichkeit« keine Information enthielt, daß jeder »Ton« mit Hilfe von Taschenspielertricks, die keine Ähnlichkeit mit dem natürlichen Hörvorgang hatten, unmittelbar seinem Quasigehirn eingespeist wurde. Glass' Mishima zog ihn so sehr in seinen Bann, daß sich ihm während der langsamen Steigerung zum Höhepunkt hin die Haare sträubten.
Und wenn die Berechnungen hinter all dem Millenien dauerten, wenn sie mit Abakussen durchgeführt würden, auf denen bunte Perlen hin- und hergeschoben wurden: Würde er dann genauso fühlen?
Es war grausam, es eingestehen zu müssen, aber die Antwort hieß: Ja!
Lange lag er wach in seinem Bett und fragte sich immer wieder: Will ich tatsächlich noch immer aus diesem Traum aufwachen ?
Das war eine rein akademische Frage. Er hatte gar keine andere Wahl.
4
(Vergib nicht den Mangel)
November 2050
Maria hatte sich mit Aden im Nadir verabredet, einem Musikclub in der Oxford Street, wo er manchmal spielte – und oft auch nur hinging, wenn er komponieren wollte. Er hatte freien Eintritt und konnte dasselbe gewöhnlich auch für sie arrangieren. Die Tür – ein beängstigender Koloß aus geripptem, geschwärztem Stahl, massiv wie eine Tresorklappe – ließ sie nach flüchtiger Überprüfung ohne Beanstandung ein. Als wäre diese Tür selbst nicht schon Alptraum genug, hatte sie sich einmal in Marias Träume eingeschlichen – hatte sie, die unerklärlicherweise ein Messer im Stiefel versteckt hatte, in die Eingangsnische gedrängt und wie ein Insekt in einer Venusfliegenfalle zu verdauen begonnen … nicht ohne zuvor (und das war das Schlimmste!) ihre Kreditkarte für ungültig zu erklären. Und alles, während Aden auf der Bühne stand und eines seiner von Abschiedsschmerz triefenden Liebeslieder sang.
Es war voll für einen Donnerstagabend, das Licht wie immer spärlich. Endlich entdeckte sie Aden an einem Tisch an der Wand, abseits der Bühne. Er lauschte einer der Bands und kritzelte währenddessen seine musikalischen Eingebungen in ein elektronisches Notizbuch. Das Licht des kleinen Bildschirms schimmerte schwach in seinem Gesicht. Soweit Maria wußte, störte ihn die Musik, die er gerade hörte, beim Komponieren nicht im geringsten. Er behauptete sogar, bei völliger Stille gar nicht arbeiten zu können, und daß Live-Aufführungen als Inspiration oder Katalysator – was auch immer – ideal seien.
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Er sah auf und nahm das Kopfset ab, dann stand er auf, um sie zu küssen. Seine Lippen schmeckten nach Orangensaft.
Er schwenkte das Kopfset. »Das solltest du dir anhören! Buddhas verlorene Söhne. Sie sind ziemlich gut.«
Maria blickte zur der Bühne, obwohl sie keine Ahnung hatte, welche Band er meinte. Gut ein Dutzend Musiker standen dort oben – vier Bands insgesamt –, in einzelnen schalldichten, transparenten Kunststoffzylindern. Die meisten Gäste hatten ihre Kopfsets übergezogen und lauschten der Musik der Band ihrer Wahl. Sie trugen LCD-Brillen, deren Lichtdurchlässigkeit synchron mit den Zylindern und der Musik der verschiedenen Gruppen gesteuert wurde. Zwar »flackerten« alle Bands mit der gleichen Frequenz, doch gegeneinander phasenverschoben, so daß durch die LCD-Brille nur die Band, auf deren Musik man geschaltet hatte, sichtbar war.
Einige Leute unterhielten sich ruhig und in gedämpftem Tonfall – von allen fünf möglichen Geräuschkulissen diejenige, die Maria am meisten zusagte. Außerdem hatte sie die nervenbahninduzierten Kopfsets, die akustische Informationen unmittelbar auf den Hörnerv übertrugen, nie gemocht; sie schützten vor Schäden an Trommelfell und Innenohr (und ersparten so dem Besitzer des Lokals Schadensersatzklagen), doch in ihren Ohren – oder Hörnerven – klingelte es hinterher immer noch stundenlang, gleichgültig, bei welcher Lautstärke sie gehört hatte.
»Später vielleicht.«
Sie streifte ihn leicht mit der Schulter, als sie sich neben ihn setzte, und glaubte zu spüren, wie sein Körper sich bei dieser ungewollten Berührung verkrampfte. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Oft glaubte sie, seine
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