Cyber City
Zwei … Drei … Vier … Fünf … «
Und überhaupt: Daß er Worte zu hören glaubte, die er nie »wirklich« gesagt hatte, war nicht erstaunlicher als die Tatsache, daß eine Kopie überhaupt etwas hören konnte. Selbst die übliche Zeitauflösung von einer Millisekunde reichte nicht aus, um den vollen Frequenzbereich des menschlichen Gehörs zu erfassen. Schwingungen von zwanzig Kilohertz waren einfach zu schnell, um in diesem Modell berücksichtigt zu werden. Dem, was er hörte, lagen keine simulierten Luftdruckschwankungen an simulierten Trommelfellen zugrunde, sondern Klangspektren, die jeder denkbaren Geräuschquelle fest zugeordnet waren und direkt seinem »Gehirn« eingegeben wurden: Diagramme, in denen Frequenz gegen Intensität aufgetragen war, wobei letztere – in grober Näherung – dem jeweiligen Abstand angepaßt wurde.
»Zehntausend Millisekunden.«
»Eins … Zwei … Drei …«
Zehn Sekunden freien Falls zwischen flüchtigen Augenblicken gesicherter Existenz.
Paul unterdrückte das erneut aufkommende Schwindelgefühl und zählte gleichmäßig weiter. Er betastete die kleine Wunde am Unterarm, wo er mit dem Kochmesser die Haut aufgeritzt hatte. Sie schmerzte … überaus realistisch. Woher kam diese täuschend echte Empfindung? Am Ende des Zehn-Sekunden-Intervalls würde sich sein in allen Einzelheiten neu berechnetes Gehirn natürlich auch daran erinnern – aber das erklärte nicht, was er gerade jetzt fühlte. Schmerz und die Erinnerung an Schmerz, das war keineswegs ein und dasselbe. Er konnte auch nicht glauben, daß aus diesem Datenwirrwarr von Milliarden Zwischenergebnissen spontan und ohne Zutun etwas Sinnvolles entstehen konnte, etwas, das die Lücken in seiner Existenz aufzufüllen half.
Dann fragte er sich: Was würde passieren, wenn jemand den Computer abschaltete … wenn man ihm den Strom abstellte – jetzt, in diesem Augenblick?
Dabei hätte er gar nicht sagen können, was das heißen sollte: jetzt – sofern es nicht diese, seine Welt hier betraf.
» … Acht … Neun … Zehn.«
Zschwitt. »Paul, ich beobachte einen leichten Blutdruckabfall. Bist du in Ordnung? Fühlst du dich gut?«
Nein, ganz und gar nicht – hätte er sagen müssen. Aber er log: »Aber ja doch, alles okay.« Und wenn es auch eine Lüge war, so würde die »Kontrollperson« dieselbe Lüge erzählen. Einmal angenommen, daß nicht er selbst …
»Sag mir eines: Was bin ich? Kopie oder Kontrolle?«
Zschwitt. »Das darf ich nicht sagen, ich spreche die ganze Zeit zu euch beiden. Nur eines kann ich verraten: Bisher verhaltet ihr euch völlig gleich, wenn man von einigen unwesentlichen Unterschieden während der Übergänge absieht. Aber die sind mittlerweile auch verschwunden …
Jedenfalls: Zu jedem Zeitpunkt, an dem ihr euch in vergleichbaren Zuständen befunden habt, waren die Signalmuster von neuronalen Verbänden aus mehr als einer Handvoll Einheiten identisch.«
Paul schnaubte ärgerlich; er würde sich gewiß nicht anmerken lassen, wie beunruhigend das Experiment für ihn gewesen war. »Was hast du denn erwartet! Löse dieselben Gleichungen auf verschiedene Weise, und du kommst zu identischen Ergebnissen – von kleinen Abweichungen durch Rundungsfehler abgesehen. Das kann nicht anders sein. Das ist Mathematik!«
Zschwitt. »Ja sicher, ganz meine Meinung.« Mit einem Finger schrieb der Dschinn auf den Schirm:
(1 + 2) + 3 = 1 + (2 + 3)
Paul sagte: »Warum halten wir uns dann mit solchen Dingen auf? Ich weiß – ich wollte ganz genau sein, ich wollte eine solide Grundlage schaffen. Aber genau betrachtet, ist es eine Verschwendung unserer Mittel. Warum übergehen wir nicht den offensichtlichen Scheiß und beginnen mit Experimenten, deren Ergebnisse nicht von vornherein feststehen?«
Zschwitt. Durham hatte mißbilligend die Stirn gerunzelt. »Ich hätte nicht gedacht, daß du so schnell zum Zyniker werden würdest. Künstliche Intelligenz ist doch kein Gebiet der reinen Mathematik, es ist eine empirische Wissenschaft. Jede unserer Annahmen muß im Experiment geprüft werden. Und nichts ist trügerischer als das scheinbar Selbstverständliche – als wüßtest du das nicht selbst! Und wenn alles von vornherein so klar ist, warum dann deine Ängstlichkeit?«
»Ich habe keine Angst, ich möchte es nur hinter mich bringen … Schluß damit, mach jetzt weiter. Tu, was du glaubst, tun zu müssen, damit wir endlich vorankommen.«
Zschwitt. »Genau das habe ich vor. Aber ich glaube, wir
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