Cyberabad: Roman (German Edition)
eingeholt. Alterres Nicht-Realität hat sie geerdet. Sie bleibt stehen, beginnt mit ihrer Abkühlungsroutine und klinkt sich aus Alterre aus. Die Zentrifuge der ISS ist ein hundert Meter durchmessender Ring, der sich dreht, um ein Viertel der Erdgravitation zu erzeugen. Vor und hinter ihr krümmt er sich steil nach oben, und sie befindet sich für immer am Boden der künstlichen Schwerkraftsenke. Gestelle mit Pflanzen verleihen dem Ganzen einen grünen Anstrich, aber nichts kann über die Tatsache hinwegtäuschen, dass hier nur Aluminium, Carbonit, Plastik und nichts dahinter ist. Die NASA baut ihre Raumschiffe ohne Fenster. Bislang bestand der Weltraum für Lisa Durnau lediglich darin, von einer verschlossenen Kammer in die nächste zu kriechen.
Lisa streckt und beugt sich. Die niedrige Schwerkraft belastet ganz andere Muskeln. Sie zieht ihre Laufsohlen aus und drückt die Zehen gegen die Metallwand. Zusätzlich zum intensiven Trainingsprogramm der NASA nimmt sie Kalziumtabletten. Lisa Durnau hat das Alter einer Frau erreicht, die anfängt, sich Gedanken über ihre Knochen zu machen. ISS-Neulinge haben aufgedunsene Gesichter und obere Gliedmaßen, in die sich die Körperflüssigkeiten umverteilt haben. Die Fortgeschrittenen sind leicht und gestreckt, wie Katzen, und die Langzeitgäste verdauen ihre eigenen Knochen. Sie verbringen die meiste Zeit oben im alten Kern, von dem aus die ISS während ihres halben Jahrhunderts im Weltraum chaotisch gewachsen ist. Nur wenige kommen herunter in die schmutzige Schwerkraft, ob nun zentrifugal oder sonst wie. Es heißt, dass sie es gar nicht mehr können. Lisa Durnau wischt sich mit einem feuchten Erfrischungstuch ab, greift nach einer Sprosse in der Wand und hangelt sich die Speiche hinauf zum alten Kern. Sie spürt, wie sie exponenziell an Gewicht verliert. Sie kann sich von einer Sprosse abstoßen und zwei, fünf, zehn Meter weit hinauffliegen. Lisa hat einen Termin mit ihrer Agentin in der Nabe. Ein Langzeitastronaut schießt auf sie zu, führt im Flug einen geschickten Salto aus und richtet die Füße nach unten. Er nickt und segelt an Lisa vorbei. Im Vergleich zu seiner Beweglichkeit wirkt sie wie ein Walross, aber das Nicken macht ihr Mut. Es ist der wärmste Willkommensgruß, den die ISS zu bieten hat. Eine Gruppe von fünfzig Menschen ist klein genug für Vornamen, aber groß genug für Politik. Also genauso wie im Institut. Lisa Durnau liebt die Körperlichkeit des Weltraums, aber sie wünscht sich, das Budget hätte für Fenster ausgereicht.
Schock Nummer eins kam am ersten Kennedy-Morgen, als sie auf ihrer Veranda mit Ozeanblick saß und das Zimmermädchen ihr Kaffee einschenkte. Das war der Moment, als ihr bewusst wurde, dass ihr eigener Staat dafür sorgte, dass die Evolutionsbiologin Dr. Lisa Durnau von der Bildfläche verschwand. Es hatte sie nicht überrascht, als die Frau im Anzug ihr erklärte, dass sie in den Weltraum geschickt werden sollte. Das Außenministerium brachte keine Leute im Überschallshuttle nach Kennedy, damit sie dort das Vogelleben studierten. Als man ihren Palmer konfiszierte und ihr ein Modell gab, mit dem sie nicht telefonieren konnte, war das unerfreulich, aber nicht schockierend gewesen. Erstaunen, aber kein Schock, dass das Hotel für sie geräumt worden war. Die Sporthalle, der Pool, die Wäscherei. Alles ganz allein für sie. Lisa hatte gute presbyterianische Schuldgefühle, den Zimmerservice anzurufen, bis die Frau aus Nicaragua ihr sagte, dass sie froh war, etwas zu tun zu haben. Beziehungsweise behauptete das Zimmermädchen, aus Nicaragua zu stammen. Sie goss den Kaffee ein, und in diesem Moment der schwindelerregenden Paranoia kam der zweite Schock: Lull war ebenfalls verschwunden. Bisher hatte Lisa gedacht, dass es nur eine Reaktion auf seine sich auflösende Ehe gewesen war.
Bei ihrem nächsten Treffen sprach Lisa Durnau die Frau im Anzug darauf an. Ihr Name war Suarez-Martin, auf spanische Weise ausgesprochen.
»Ich muss es wissen«, sagte Lisa Durnau und trat von einem Fuß auf den anderen, eine unbewusste Wiederholung ihrer Aufwärmroutine. »Ist so etwas auch mit Thomas Lull geschehen?«
Die Regierungsagentin Suarez-Martin benutzte das Business Center als ihr Büro. Sie saß mit dem Rücken zum Panoramaausblick auf Raketen und Pelikane.
»Das weiß ich nicht. Sein Verschwinden hat nichts mit der Regierung der Vereinigten Staaten zu tun. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Lisa Durnau musste die Antwort ein paarmal
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