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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McDonald
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wogenden Mob der Menschen, die sich vor dem Boot nach Patna drängeln. Steht sie dort so, weil sie sieht, was ich sehe?, fragt sich Mr. Nandha. Ist sie vor Furcht und Ehrfurcht erstarrt, als die Götter aus dem Wasser aufstiegen? Sind wir die einzigen wahren Sehenden in dieser Stadt der Illusionen?
    Eine Kaih, die sich in einem menschlichen Körper inkarniert hat. Finstere Zeiten, in der Tat. Mr. Nandha kann sich nicht vorstellen, welche fremdartige, unmenschliche Intrige hinter diesem Verbrechen an einer Menschenseele steht. Er will es sich gar nicht vorstellen. Wissen kann der Weg zum Verständnis sein und Verständnis der Weg zur Toleranz. Für manche Dinge kann es keine Toleranz geben. Er wird die Missgeburt auslöschen, und alles wird wieder gut sein. Alles wird wieder in Ordnung kommen.
    Als die Pilotin zwischen Hanuman und Ganesha hindurchfliegt, leuchtet ein einsamer Stern in Mr. Nandhas Sichtfeld vor der Spitze des Wasserturms. Sein Finger deutet hinunter auf den mit Regenpfützen übersäten Strand. Die Pilotin zieht die Nase hoch und schwenkt die Triebwerke. Sadhus und Swamis fliehen von ihren Müllfeuern und drohen dem vom Himmel herabsteigenden Ding mit knochigen Fäusten. Wenn ihr sehen würdet, was ich sehe, denkt Mr. Nandha und löst seinen Sitzgurt.
    »Chef«, ruft Vik, während er sich durch die Kabine vorkämpft, »wir registrieren einen enormen Verkehr zum internen Netzwerk von Ray Power. Ich glaube, das ist unsere Gen-Drei.«
    »Zu gegebener Zeit«, sagt Mr. Nandha mit leicht tadelndem Tonfall. »Eins nach dem anderen. So müssen Dinge erledigt werden. Wenn wir hier unsere Arbeit beendet haben, werden wir uns um Ray Power kümmern.«
    Er hält die Waffe einsatzbereit in der Faust und springt auf den Sand am Fuß der Rampe. Der Himmel wimmelt von Göttern.
    So viele Menschen. Kij hält sich am verrosteten Geländer fest; von den Massen auf den Ghats und am Flussufer ist ihr ganz schwindlig. Der Druck ihrer Körper hat sie auf diesen Steg getrieben, als sie auf dem Weg zum Haveli bemerkte, wie ihr der Atem in der Kehle stockte. Kij leert ihre Lungen, wartet und atmet dann langsam durch die Nase ein. Den Mund zum Sprechen, die Nase zum Atmen. Doch der Teppich aus Seelen widert sie an. Die Massen nehmen kein Ende, sie lösen sich schneller voneinander, als sie zu den Verbrennungsghats und zum Fluss gehen können. Sie erinnert sich an die anderen Orte, wo sie unter Menschen war, im großen Bahnhof, am brennenden Zug und anschließend im Dorf, wohin die Soldaten sie alle in Sicherheit brachten, nachdem sie die Maschinen aufgehalten hatte.
    Jetzt versteht sie, wie sie das gemacht hat. Sie versteht, woher sie den Namen des Busfahrers auf der Straße in Thekkady wusste, den Namen des Jungen, der in Ahmedabad das Motorrad gestohlen hatte. Es ist eine Vergangenheit, die ihr so nahe und fremd ist wie die Kindheit, ein unauslöschlicher Teil von ihr, aber separat, unschuldig, uralt. Diese Kij ist sie nicht. Sie ist auch nicht die andere Kij, das konvertierte Kind, der Avatar der Götter. Sie hat begriffen, und in diesem Moment der Erleuchtung wurde sie im Stich gelassen. Die Götter konnten zu viel Menschlichkeit nicht ertragen. Und nun ist sie eine dritte Kij. Keine Stimmen und Weisheiten mehr in Straßenlampen und Taxiständen – das, so wird ihr nun klar, waren die Kaihs, die durch das Fenster ihrer Tilaka in ihre Seele flüsterten. Jetzt ist sie eine Gefangene in diesem Knochenkerker, genauso wie jedes andere Leben dort unten am Fluss. Sie ist gefallen. Sie ist Mensch geworden.
    Dann hört sie das Flugzeug. Sie blickt auf, während es sich tief und schnell über die Tempeltürme und Dächer der Havelis nähert. Sie sieht zehntausend Menschen, die gleichzeitig zusammenzucken, aber sie bleibt stehen, weil sie weiß, was es ist. Eine letzte Erinnerung daran, dass sie etwas anderes als ein menschliches Wesen ist, ein letztes göttliches Flüstern, das Gotteslicht, das im Mikrowellensummen der kosmischen Hintergrundstrahlung verblasst, verrät es ihr. Sie beobachtet, wie das Flugzeug auf dem festgetrampelten Sand niedergeht und die Aschefeuer der Sadhus zu Funken verweht, und sie weiß, dass es ihretwegen gekommen ist. Sie läuft los.
    Mit flinken Handzeichen weist Mr. Nandha seinen Trupp an, die Ghats zu räumen und die Ausgänge zu versperren. Aus dem Augenwinkel bemerkt er, dass Vik sich zurückfallen lässt, immer noch in der Straßenkleidung, die er schon während der nächtlichen Kämpfe getragen hat,

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