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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McDonald
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jetzt den Blick abzuwenden«, erklärt er den Umstehenden. Er schaut zu seinen Zuschauern auf. Seine Augen blicken in blaue Augen, westliche Augen, in einem westlichen Gesicht mit Bart, ein Gesicht, das er wiedererkennt. Ein Gesicht, nach dem er sucht. Thomas Lull. Mr. Nandha vollführt den Ansatz einer Verbeugung. Die Waffe feuert. Die zweite Patrone trifft Kij in den Hinterkopf.
    Thomas Lull brüllt unzusammenhängend. Lisa Durnau ist bei ihm, hält ihn fest, zieht ihn zurück, klammert sich mit ihrer ganzen sportlichen Kraft und ihrem Körpergewicht und ihrer gemeinsamen Geschichte an ihn. In ihren Ohren ist ein Geräusch wie vom Ende eines Universums. Die Streifen unerträglicher Hitze auf ihrem Gesicht sind Tränen. Und immer noch prasselt der Regen vom Himmel.
    Mr. Nandha spürt, dass seine Krieger hinter ihm stehen. Er dreht sich zu ihnen um. Vorläufig muss er den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht zur Kenntnis nehmen. Er zeigt auf Thomas Lull und die Frau, die seine Arme festhält.
    »Lassen Sie diese Personen wegen eines Vergehens gegen das Gesetz zur Registrierung und Lizensierung Künstlicher Intelligenzen festnehmen«, befiehlt er. »Entsenden Sie unverzüglich alle Einheiten zum Forschungs- und Entwicklungszentrum von Ray Power an der University ofVaranasi. Und jemand soll sich um das hier kümmern.«
    Er steckt die Waffe ins Holster. Mr. Nandha hofft sehr, dass er sie an diesem Tag kein weiteres Mal benutzen muss.
    Schauen Sie nach links , sagt der Kapitän. Das ist der Annapurna und dahinter der Manaslu. Danach kommt der Shishapangma. Alle über achttausend Meter hoch. Wenn Sie auf der linken Seite des Flugzeugs sitzen, gebe ich Ihnen Bescheid, sobald er in Sicht kommt, denn an guten Tagen kann man von hier aus den Sagarmatha sehen. So nennen wir den Everest.
    Thal hat sich auf dem breiten Sitz der Businessclass zusammengerollt, den Kopf auf das Kissen auf der Armlehne gelegt, und gibt im Schlaf leise Sopranschnarcher von sich, obwohl der Flug von Varanasi nur vierzig Minuten dauert. Najia hört die hohen Beats aus sys Kopfhörern. Für alles einen Soundtrack. HIMALAYA MIX. Sie beugt sich über ys, um aus dem Fenster zu blicken. Der kleine Cityhopper fliegt über die Ganges-Ebene und das Terai-Tiefland in Nepal, um dann einen großen Sprung über das von Flüssen zerrissene Vorgebirge zu machen, das Kathmandu wie eine Festungsmauer schützt. Dahinter erhebt sich wie eine Brandungslinie, die sich am Rand der Welt bricht, der Hochhimalaya, gewaltig und weiß und höher, als sie sich je erträumt hat. An den erhabensten Spitzen hängen Wolkenfetzen des Jetstreams. Immer höher und weiter, Gipfel um Gipfel um Gipfel, das Weiß der Gletscher und Hochebenen und das gefleckte Grau der Täler, die am fernsten Rand ihres Sichtfeldes zu Blau verschwimmen, wie ein steinerner Ozean. Najia kann in keiner Richtung eine Begrenzung sehen.
    Ihr Herz macht einen Satz. In ihrer Kehle ist etwas, das sie nicht schlucken kann. In ihren Augen sammeln sich Tränen.
    Sie erinnert sich an diese Szene aus Lal Darfans Elefantenpagode, aber jene Berge hatten nicht die Macht, sie zu berühren, zu bewegen, zu inspirieren. Sie waren Faltungen aus Fraktalen und Ziffern, zwei imaginäre Landmassen, die miteinander kollidieren. Und Lal Darfan war auch N. K. Jivanjee und auch die Gen-Drei-Kaih gewesen, und die westlichsten Ausläufer dieser Berge waren die Gipfel, die sie über der Mauer um den Garten in Kabul gesehen hat. Sie weiß, dass das Bild, das die Gen-Drei ihr von ihrem Vater als Folterer zeigte, nicht echt war. Sie ist nie diesen Korridor entlanggegangen, war nie in diesem Raum bei dieser Frau, die aller Wahrscheinlichkeit nach niemals existierte. Aber sie bezweifelt nicht, dass es andere gab, dass andere Frauen auf diesen Tisch geschnallt wurden und schrien, weil sie eine Gefahr für das Establishment darstellten. Und sie bezweifelt nicht, dass dieses Bild nun für immer ihrem Gedächtnis eingebrannt ist. Ich bestehe aus Gedächtnis , hatte die Kaih gesagt. Das Gedächtnis bildet unser Ich, wir erschaffen uns ein Gedächtnis. Sie erinnert sich an einen anderen Vater, eine andere Najia Askarzadah. Sie weiß nicht, wie sie mit ihnen leben kann, ihnen beiden. Und die Berge sind rau und hoch und kalt und reichen über jedes Ende hinaus, das sie sehen kann, und sie fliegt hoch und einsam auf ihrem ledernen Sitz der Businessclass mit fünfzig Zoll Beinfreiheit.
    Jetzt glaubt sie zu wissen, warum die Kaih ihr die Kindheit zeigte,

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