CyberCrime
erzählte er mir beispielsweise ganz dreist, er sei am 10. April 1982 geboren. In Wirklichkeit kam er am gleichen Datum, aber erst vier Jahre später zur Welt.
In den nun folgenden Kapiteln gebe ich Merts Geschichte im Wesentlichen so wieder, wie er sie mir erzählte. An zwei entscheidenden Stellen jedoch geht sie nicht auf, dort gelang es mir nicht, seine Behauptungen zu bestätigen; im ersten Fall leugnet einer der Hauptbeteiligten rundheraus Merts Version der Ereignisse. Wenn wir zu diesen Stellen kommen, werde ich darauf aufmerksam machen.
Die Nagelprobe für Merts Glaubwürdigkeit war seine Antwort auf eine Frage, die seit der Gründung von DarkMarket viele Experten für den Cyber-Untergrund umtreibt: Wer ist Lord Cyric?
30 Die Traumwelt des Mert Ortaç
Istanbul, Türkei, Mai 2007
Als man Mert Ortaç den Salon des komfortablen Gästehauses zeigte, zog er die Luft ein. Der Raum erinnerte ihn an die Sultan-Suite im Çirağan-Palast, jenem Meisterwerk aus dem 19. Jahrhundert, das auf Geheiß seiner kaiserlichen Hoheit Sultan Abdülaziz erbaut und in jüngerer Zeit von der Hotelkette Kempinski erworben worden war. Goldene Blätterranken zierten Sofas und Stühle, und die Tapete mit ihren arabischen Mustern glitzerte, als hätte sie die Sonne eingefangen.
Tatsächlich war der Çirağan-Palast nur ungefähr 800 Meter von dem Gästehaus entfernt, das streng abgeschirmt auf einem schwer bewachten Grundstück stand. Agenten schlichen in der Umgebung herum und bedachten jeden, der die Frechheit besaß, hier zu parken, mit düsteren Blicken. Das Haus stand ganz am Rand des Stadtviertels Beşiktaş und blickte vom Gipfel eines Hügels in Europa über den Bosporus nach Asien. Am erstaunlichsten war, dass in dem Salon, in den man Mert geführt hatte, kein Porträt von Kemal Atatürk hing, des verehrten Führers der modernen Türkei. Kemal-Porträts sind überall in der Türkei die Regel, und das nicht nur in den Büros von Firmen und Behörden, sondern oftmals in jedem Zimmer eines Gebäudes. In diesem Raum aber hing keines, obwohl es sich um das Gästehaus der Istanbuler Regionalzentrale der Milli İstihbarat Teşkilati ( MİT ) handelte, des türkischen Geheimdienstes.
In Angst einflößenden Situationen reagierte Mert in der Regel entweder mit einem leisen Kichern hinter seinem ansteckend-spitzbübischen Lächeln oder mit Weglaufen. In diesem Fall war keine der beiden Möglichkeiten angemessen. Wie gelähmt stand Mert vor den eleganten Kellnern, die Tee und Kaffee servierten. Vor allem das Bild der makellos weißen Handschuhe, mit denen sie die Erfrischungen vor ihn auf den Tisch stellten, blieb ihm im Gedächtnis. Er empfand ein surreales Gefühl des Wohlbefindens und der unterdrückten Erregung. Das allerdings dauerte nicht lange.
In seiner Begleitung war ein Kollege vom Senior Sciences Technology Institute, aber die drei anderen, die ihn begrüßten, kannte Mert nicht. Nachdem die Kellner sich lautlos zurückgezogen hatten, wandten diese Männer Mert ihre Aufmerksamkeit zu. »Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen«, begann einer von ihnen. Dann stellten sie einen Digitalrekorder vor ihm auf dem Tisch.
Wenig später begann Mert unter dem Druck des Verhörs zu schwitzen. Eine verschärfte Befragung war es nicht. Er sollte vielmehr sechseinhalb Stunden lang eine Reihe ungeheuer schwieriger Mathematikaufgaben lösen. Unter normalen Umständen hätte er nicht einmal versucht, die Lösungen ohne Computer zu finden. Seine drei Gastgeber forderten ihn auf, eine Methode anzuwenden, die beim Programmieren beliebt ist: Man teilt dazu die Zahl 52 in ungerade Zahlen auf. Es war höhere Mathematik, und als Hilfsmittel hatte er nur Papier und Bleistift.
Der junge Computerprogrammierer war bereits durch die Aufnahmeprüfung gefallen, die ihn zum Kandidaten für eine Probeanstellung im Geheimdienst gemacht hätte. Den Fremdsprachentest (Englisch) und die Mathematikprüfung bestand er, aber in der türkischen Sprachprüfung versagte er völlig. Dennoch war der Geheimdienst von seinen Computerkenntnissen fasziniert. Seine Fähigkeiten als Programmierer waren wirklich bemerkenswert, und er hatte außergewöhnliche Noten vorzuweisen. Deshalb wurde er als freier Mitarbeiter angenommen.
Gegen Mert war schon 2003 wegen Betrugs ermittelt worden. Er war damals erst 17, hatte aber bereits den Code geknackt, mit dem die Smartcards des türkischen Satelliten-Fernsehsenders Digiturk verschlüsselt waren. Es war eine gewinnbringende
Weitere Kostenlose Bücher