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Cyberspace

Cyberspace

Titel: Cyberspace Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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echt zappendüster. Schaurig genug, um das Momentum des beschissenen Abends zu stoppen, was zweifellos ein Vorzug war. Ich wollte noch einen für unterwegs kippen, dieses Loch bestaunen und dann nichts wie rein ins Taxi heim.
    Und dann sah ich Lise.
    Sie hatte mich nicht bemerkt, noch nicht, und ich hatte noch meinen Mantel an und bei diesem Wetter den Kragen hochgeklappt. Sie saß weiter unten am Tresen und hatte vor sich ein paar geleerte Gläser stehen, die großen, zu denen es kleine Schirme aus Hongkong oder Wassernixen aus Plastik gibt, und als sie zu dem Knaben neben sich aufschaute, sah ich das Wizz aus ihren Augen leuchten und wußte, daß die Drinks alkoholfrei gewesen waren, denn die Stoffmenge, die sie sich zuführte, erlaubte kein Mischen mehr. Der Knabe jedoch war zu, sternhagelblau und kurz davor, vom Hocker zu kippen. Er kämpfte schwer damit, seine Augen scharf zu stellen, um Lise besser sehen zu können. Lise im schwarzen Lederblouson ihrer Modeberater hatte den
    Reißverschluß bis zum Hals geschlossen, und jeden Moment müßte ihr Schädel wie eine
    Tausend-Watt-Birne durch ihr blasses Gesicht leuchten. Als ich sie so dort sitzen sah, wußte ich auf einmal 'ne Menge mehr.
    Daß sie wirklich starb, entweder am Wizz oder an ihrer Krankheit oder an einer Kombination davon. Daß sie es verdammt genau wußte. Daß der Knabe neben ihr zu besoffen war, um das
    Hautskelett zu bemerken, aber noch nüchtern genug, um die teure Jacke und das Geld, das sie für ihre Drinks hinblätterte, zu registrieren. Und daß der Eindruck, den ich gewann, haargenau der Eindruck war, den sie machte.
    Aber ich war momentan nicht imstande, zwei und zwei zusammenzuzählen, zu kombinieren. Es
    zuckte etwas in mir zusammen.
    Und sie lächelte oder stellte zumindest das, was sie wohl für Lächeln hielt, zur Schau, machte eine Miene, die sie als angemessen erachtete unter solchen Umständen, und nickte rechtzeitig zum ungereimten Gefasel des Knaben. Dabei fiel mir ihr schrecklicher Ausspruch ein, der mit dem Zuschauen-wollen.
    Und jetzt kenn ich mich aus. Ich weiß, wenn ich sie nicht zufällig da drin gesehen hätte, dann hätte ich alles Spätere akzeptieren können. Hätte es vielleicht sogar fertiggebracht, mich für sie zu freuen, oder fertiggebracht, an das, was sie inzwischen geworden ist, zu glauben, oder auf ihr Image zu bauen, das Programm, das vorgibt, Lise zu sein, und sich gar für Lise hält. Ich hätte glauben können, was Rubin glaubt: Sie stand dermaßen über allem, unsere hi-tech-Jeanne d'Arc, die auf die Vereinigung mit der fesrverdrahteten Gottheit von Hollywood brannte, daß ihr nichts anderes wichtig war als die Stunde des Scheidens. Daß sie den armen, jämmerlichen Körper
    wegwarf mit einem Aufschrei der Erleichterung, frei von den Fesseln des Polykarbonats und verhaßten Fleisches. Nun, vielleicht tat sie's ja auch. Vielleicht war's ja auch so. Ich wette, so hat sie sich's vorgestellt.
    Aber als sie da saß und die Hand dieses Besoffenen hielt, die sie nicht mal fühlen konnte, wußte ich ein für allemal, daß kein menschliches Motiv ganz ungetrübt ist. Selbst Lise mit ihrem ätzenden, irren Drang zum Startum und zur kybernetischen Unsterblichkeit hatte Schwächen.
    War nur ein Mensch. Und für diese Einsicht haßte ich mich.
    Sie war an diesem Abend, das wußte ich, ausgegangen, um einen letzten Kuß zu ergattern. Um jemanden zu finden, der besoffen genug wäre, um es ihr zu machen. Denn jetzt war mir klar, daß es stimmte: sie schaute gern zu!
    Ich glaube, sie hat mich gesehen, als ich gegangen bin. Ich bin praktisch davongerannt. Wenn sie mich gesehen hat, wird sie mich mehr denn je hassen wegen meines entsetzten, betroffenen
    Gesichts.
    Ich habe sie nie wiedergesehn.
    Eines Tages werde ich Rubin fragen, warum Wild Turkey sour der einzige Drink ist, den er
    mixen kann. Haben’s in sich, seine Drinks. Er reicht mir den verbeulten Aluminiumbecher,
    während es in seinem Laden ringsum tickt und raschelt vom scheuen Treiben seiner handlicheren Kreationen.
    »Solltest nach Frankfurt mitkommen«, sagt er noch mal.
    »Und wieso, Rubin?«
    »Weil sie dich recht bald anrufen wird. Und ich meine, das war vorerst vielleicht zu viel für dich.
    Bist noch ganz durcheinander. Es wird klingen wie sie, HV wird denken wie sie, und du wirst ganz aus dem Häuschen geraten. Komm mit mir nach Frankfurt, und du kannst eine kleine
    Verschnaufpause einlegen. Sie wird nicht wissen, daß du dort bist ...«
    »Du weißt

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