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Cyrion

Cyrion

Titel: Cyrion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Blume, zart und still, legitim und nicht nachträglich adoptiert, ein Geschöpf, das so nahtlos in dieses Haus paßte, wie Valia unpassend war. Und da war Gerris, der Valia jetzt mit unechter theatralischer Liebe überschüttete und mit Geschenken (immer noch billig, denn das Geld war knapp), der zurückzuckte, wenn er in ihre Nähe kam, und sich zwang, sie zu umarmen und zu loben - sie verstand den Grund nicht, aber sie fühlte seine Schwäche, seine Abneigung und seine Furcht. Und haßte ihn um so mehr. Haßte jeden und alles. Außer Die alte Frau, das Kindermädchen der goldenen Schwester und jetzt auch ihr Kindermädchen. Meistens schenkte die alte Frau ihr nur wenig Beachtung, obwohl Valia einmal, als sie geschmeidig und geschickt einen Baum hinaufkletterte, bemerkt hatte, wie die alten Augen sie beobachteten. Danach, wenn sie allein waren, erzählte Tabbit ihr Geschichten. Es waren herrliche Geschichten, von einem wunderschönen Palast aus Kristall und Smaragd auf dem Meeresgrund, wo eine Göttin wohnte, die von den Menschen vergessen worden war, aber immer noch von einigen wenigen verehrt wurde, den Auserwählten, den Treuesten - alles Frauen. Und sie belohnte mit Macht, diese Göttin, alle, die ihr dienten. Macht, um andere Menschen, Männer wie Frauen, zu Sklaven zu machen. Macht, um zu bestrafen und zu befehlen.
    Schon zu der Zeit war Tabbit alt. Sehr alt, und an einer Hand fehlte ihr der kleine Finger. Tabbit erklärte das Opfer, das sie der Göttin des Meeres dargebracht hatte, der Mutter des Großen Wassers. Der abgeschnittene Finger hatte ihren Bund besiegelt. Es gab anderes, das man Ihr opfern konnte. Einen Zeh, ein Ohrläppchen, sogar eine Brustwarze - Valia, deren Busen sich schon wölbte, erschauerte vor Entsetzen. Aber was (sagte Tabbit) war ein kleines Stück Fleisch im Vergleich zu solcher Macht? Der Kummer war, daß nur so wenige geeignet waren, der Göttin zu dienen, daß ihre Gefolgschaft bis auf eine Handvoll zusammengeschmolzen war. Damit der Orden nicht ausstarb, war eine von ihnen ausgezogen, um ihre Gefährtinnen mit aller Nahrung zu versorgen, derer sie habhaft werden konnte; denn sie alle wurden alt und konnten sich nicht mehr gut aus dem Meer versorgen. Das Hauptanliegen aber war, die Welt nach einem leuchtenden Kind abzusuchen, das schön und klug und stark genug war, um in den Tempel der Göttin einzutreten und ihre übernatürlichen Gaben zu empfangen.
    Das alles wurde so geschickt angefangen, viel geschickter, als es zu erzählen ist. Schließlich hatte es die zwei vorhersehbaren Höhepunkte gegeben. Tabbits Bekenntnis, daß sie selbst die suchende Priesterin war. Valias leidenschaftlicher Wunsch, daß die Wahl auf sie fallen möge.
    Sie war nie etwas Besonderes gewesen. Ein ungewolltes Kind, ein Klotz am Bein von zwei Liebenden, ein Mittel, Gott zu bestechen. Sie hatte keine Stellung oder glaubte, keine zu haben, und sie wurde nicht geliebt. Sie verabscheute Gerris, sie verabscheute die goldene Blume, Eliset, die all das darstellte, was Valia nicht war, und die aus irregeleitetem Mitleid ein- oder zweimal versucht hatte, freundlich zu ihr zu sein, wodurch Valias Haß nur noch mehr geschürt wurde. Valia sehnte sich nach dem Segen der Göttin. Sie bekam ihn.
    Tabbit sagte ihr, wie sie den Tempel erreichen konnte, von dem Weg durch den Brunnenschacht und dem Käfig. Diesen Weg, so berichtete Tabbit, gab es schon seit undenklichen Zeiten. Die aus dem Osten stammende Herrin des Hauses, auf dessen Grundmauern Flor erbaut war, war ein Mitglied der Sekte gewesen. Sie war es, die der Schwesternschaft Zuflucht bot, als sie sich aus Angst vor Verfolgung verbergen mußte. Der Brunnenschacht ermöglichte auch Tabbit ein unbeobachtetes Kommen und Gehen, wenn sie ihre Schwestern mit Lebensmitteln versorgte, die sie im Haus gestohlen hatte. Gelenkig wie ein Affe war Tabbit immer noch, aber die Aufgabe wurde ihr immer schwerer. Was jetzt gebraucht wurde, war Jugend. Jugend, die von derselben verrückten Treue und Besessenheit im Zaum gehalten werden konnte, wie sie all diese Frauen am Leben hielt, die da in ihren unterirdischen Löchern verfaulten, Männer haßten, die Welt haßten, das Leben haßten. Ja, in Valia hatte Tabbit die Eigenschaften erkannt, die die Göttin der Hexen schätzte. Nicht Weisheit oder strahlende Kraft, sondern schlaue, zähe Hinterlist, den ersten Funken von Verfolgungswahn.
    Schließlich geschah es dann. Valia ließ sich in der Nähe des Turmes und der Klippen von den

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