Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cyrion

Cyrion

Titel: Cyrion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
Vom Netzwerk:
Verfall ihres Fleisches zur Schau. Ihr Gesicht war gänzlich eingefallen, die Augen, die Wangen, der Mund. Es war ein Totenschädel, überzogen von durchscheinender Haut, die jede Farbe verloren hatte bis auf die Farben, die der Widerschein der Flammen darauf zeichnete, jetzt Gold, dann Türkis, dann schimmerndes Grün. Sie mochte hundertfünfzig Jahre zählen. Sie. Ebenso gut konnte sie ein Neutrum sein. Die Zeit hatte sie ihres Geschlechtes und ihrer Persönlichkeit beraubt. Sie war nichts als nur eine Funktion. Sie selbst aber war wie versteinert, zu Stein geworden wie der Holzklotz an Deck des Schiffes, und bewahrte dadurch alle Merkmale ihres Charakters, alle Veranlagungen aus der Zeit, als sie noch gelebt hatte, und diese bestimmten noch immer ihr Handeln. Was davon am meisten auffiel, war eine Art geduldiger Boshaftigkeit. Sie war in ihren Augen zu erkennen, das Flackern einer Intelligenz, die noch nicht erstorben war, aber sich selbst nicht mehr begriff und auch nicht begreifen wollte.
    Statt einer Kapuze bedeckte ein Netz aus Goldfäden und Perlen ihre weißen Haarsträhnen und tropfte über die breite, von tiefen Falten gekerbte Stirn.
    Abgesehen davon gab es noch etwas Bemerkenswertes. An der rechten Hand der Frau fehlte der kleine Finger.
    Ihr gegenüber stand ein junger Mann, gekleidet in wolfsähnlichen Farben und mit wolfsähnlichen Augen, dem es keine Schwierigkeiten zu bereiten schien, dem bösen, irrlichternden Blick der Hexe zu begegnen. In seiner Hand blitzte ein Schwert, erst rot, dann blau, dann grün. Dann wieder rot. Mevary war in einer seiner weniger liebenswürdigen Stimmungen.
    »Ja, du hast mir alles erklärt, Tabbit. Der Mond ist nicht voll. Es ist nicht die Zeit für das Ritual. Dann verzichte ich auf das idiotische Ritual! Was kümmert’s mich, ob deine verhurte Göttin im Meer damit einverstanden ist? Ihr Gold geben soll sie nur, von dem ihr mir immer nur kleine Stücke gezeigt habt, den Schatz aus der Höhle. Dann werde ich ihr ein paar Artigkeiten sagen, falls sie Wert darauf legt. Vielleicht.«
    Tabbit, die von ihren Schülerinnen>Oe    »Es ist nicht nur Vollmond, den wir abwarten müssen. Es ist auch noch nicht die rechte Zeit.«
    »Zur Hölle mit der Zeit. Habe ich es dir nicht schon gesagt, alte Frau? Ich kann meine Zeit nicht damit verschwenden, auf deine Göttin zu warten. Ich muß Flor verlassen - heute nacht.
    Wenn ihr mir nicht helfen wollt, so braucht ihr mir nur zu sagen, wo ich suchen muß. Ich kann dieses alte Wrack auch alleine rudern, möchte ich wetten, wenn deine vergreiste Mannschaft dazu in der Lage ist. Also los, ihr tatterigen alten Weiber. Tut, was ich sage.« Er hob das Schwert. »Oder glaubt ihr, daß ihr schneller seid als das hier?«
    Die Frauen raschelten und drückten sich zusammen wie ein Schwarm grauer Fledermäuse. Sie schienen sich nicht zu fürchten. Tabbit, die Oe-Tabbit genannt wurde, zeigte jedenfalls keine Angst.
    »Und du, Tochter, was sagst du dazu?«
    Mevary fuhr herum. Und entdeckte die schattenhafte Gestalt, die schon eine ganze Weile hinter ihm gestanden hatte. »Du«, sagte er. »Nun, was sagst du denn, Herzliebchen? Bekomme ich das Gold, das du und dein liebes altes Kinderfrauchen mir versprochen habt? Oder soll ich zurückgehen, vor Cousin Roilant ein Geständnis ablegen und mich in Cassireia hängen lassen?«
    »Es stimmt, was er sagt«, murmelte der Schatten. »Ich habe mich geirrt, was Roilants Tod betraf. Wie sich herausstellte, hatte er einen Verbündeten, der seine Rolle spielte. Mevary wird in die Hände des Statthalters fallen, wenn er in das Haus zurückkehrt.«
    Weich wie Ziegelstaub fragte Tabbit: »Und suchen sie nach dir, da oben?«
    »Nein. Ich gab dem Jungen Zimir ein Mittel, das er in ihren Wein getan hat. Und einen anderen hat Mevary mit einem Kerzenhalter betäubt. Alle schlafen, bis auf das Mädchen. Und sie hat gelernt, sich Mevarys Launen zu fügen.«
    Tabbit senkte die faltigen Lider. Sie schien in sich hineinzulauschen, aber nur für eine Sekunde. Dann richtete sich der erschreckende Blick ihrer Augen wieder auf Mevary.
    »In diesem Fall, wenn es auch nicht die Zeit ist, soll dein Wunsch erfüllt werden.«
    Wieder raschelte es hinter ihr, knochige Hände

Weitere Kostenlose Bücher