Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cyrion

Cyrion

Titel: Cyrion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
Vom Netzwerk:
war so heiser unter dem hohen Kragen, daß er vermutlich erdrosselt worden war und zweifellos von Radri. Radri hatte sich die Brust massiert: Erinnerung an einen Dolchstoß von Jolans sterbender Hand? Sabaras Stimme war makellos und schön gewesen, also hatte sie sich wohl die Pulsadern aufgeschnitten und verbarg die Narben unter den goldenen Armbändern. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie es in einer mit heißem Wasser gefüllten Badewanne getan, die traditionelle Art der remusischen Frauen, Selbstmord zu begehen. Denn sie waren alle Remusaner. Trotz ihrer geänderten Namen, ihrer magischen Schutzvorrichtung - die ihre Kleidung und ihre Möbel, soweit es nötig war, der gängigen Mode anpaßte - trotz ihrer magischen Fähigkeit, als Tote eine der neuen Sprachen des Landes zu beherrschen, das zu besuchen sie immer noch gezwungen waren, einmal im Jahr, in Marivals Todesnacht. Marival, unwiderruflicher tot, als sie es waren, aber frei.
    Unvermittelt erhob sich die neugeborene Sonne auf ihren jungen Flügeln über die Säulen des Forums. Cyrion drehte sich um, und das Haus war verschwunden, ebenso wie der Garten und das Grabmal. Er hatte es nicht anders erwartet.
    Naldinus war an der Seuche gestorben, ein Ende, das nicht der Gerechtigkeit entbehrte. Und wo immer sie sich jetzt befanden, sie waren nicht mehr in der irdischen Hölle. Unfähig zu gestehen, hatten sie um Frieden gefleht, mit Tränen, Schreien und erbarmungslosen Morden.
    Nur Sabara hatte Cyrion hinterhergesehen. Sabara - ihr Name war remusisch, unverändert. In ihren Augen lag etwas, das keiner Worte bedurfte. Aber es waren nur noch wenige Minuten bis Sonnenaufgang gewesen, und jetzt war es endgültig zu spät.
    Eine eigenartige Unebenheit verlief über den Streifen nackter Erde zwischen der Straße und den Stufen des remusischen Tempels. Vielleicht die Überreste eines Hauses, das in früheren
    Zeiten hier gestanden hatte. Hier hatte man die Knochen gefunden, die Knochen von mehr als vierzig Menschen - viel, viel mehr -, denen es nicht gelungen war, vier zornigen, von Schuldgefühlen besessenen Geistern den ersehnten Frieden zu bringen.
    An der Nordseite des Tempels wuchs ein schlanker grüner Baum. Die Erde über seinen Wurzeln war aufgeworfen, wie von einem Erdbeben, das nur an dieser einen Stelle gewütet hatte. Zwischen den Erdbrocken lag eine Kiste aus vergoldetem Eisen, die teilweise schon verrostet war.
    Der Schlüssel paßte in das Schloß, das bei der ersten Umdrehung zerbrach und trotzdem aufsprang. Cyrion hob den Deckel.
    Zwei goldene Kragen, einer mit dem daranhängenden in Rubine und Saphiren gefaßten Bild einer schwarzhaarigen Frau; mehrere perlenbesetzte Amulette; ein mit Edelsteinen reich verzierter Dolch; fünf Becher aus gehämmertem Silber (ja, wer hätte nicht den fruchtigen remusischen Wein erkannt, von dem die Dichter sangen und den man mit weiten Meeren bei Sonnenaufgang und den Lippen einer Frau verglichen hatte?); eine große Anzahl glitzernder, makelloser Ringe; zwei Armreifen aus Gold. Nur Marival hatte ihm ihren Schmuck nicht hinterlassen. Die langen Jahre hatten alles mit einem matten Schleier überzogen, hatten die einzelnen Stücke mit einem feinen, grünlichen Belag versehen, der faszinierender wirkte als das edle Metall selbst, wie bei einem Schatz vom Meeresgrund. Allein dem Gewicht nach stellte der Inhalt der Truhe ein atemberaubendes Vermögen dar. Bedachte man das hohe Alter, war er unbezahlbar.
    Cyrion ließ die Truhe offen, für die Glücklichen, die der Zufall daran vorbeiführte. Er selbst behielt nur ein einziges Stück. Ein einziges schmales Armband aus grünlichem Gold, das seit zwölf Jahrhunderten oder mehr, wenn auch nur für eine Nacht in jedem Jahr, Sabara an ihrem Handgelenk getragen hatte.
     
     
     
Drittes Zwischenspiel
     
    Im Honiggarten wurde das Mittagessen serviert. Zu dem saftigen Zicklein gab es goldbraun gebackenes Brot und in Öl und Pfeffer knusprig gebratenes Gemüse. Der köstliche Duft riß selbst den Soldaten aus der Benommenheit, in die er während der Erzählung des Gelehrten verfallen war. Roilant allerdings war hellwach geblieben.
    »Das war wirklich - sehr geschickt«, sagte er, als die große Platte auf seinen Tisch gestellt wurde.
    »Vielen Dank«, bemerkte der Sklave bescheiden.
    Roilant machte sich nicht die Mühe, das Mißverständnis zu bereinigen. Er musterte das Gesicht des Gelehrten.
    »Ich könnte mir denken, daß diese labyrinthische Geschichte für das Gehirn eines

Weitere Kostenlose Bücher