Cyrion
Nachmittag ist noch jung.«
Roilant stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, daß er in den Gastraum zurückgeführt wurde.
Alles in allem hatte sich nichts verändert. Der zurückkehrende Schnauzbart hatte sich, trotz aller Willkommensgrüße, nicht an den Gemeinschaftstisch niedergelassen. Er hatte sich da breitgemacht, wo die dunkelhaarige Frau gesessen hatte, den Kopf auf die Arme gelegt, und machte Anstalten, geräuschvoll seinen Rausch auszuschlafen. Die Schnarcher, die unter dem braunen Schnurrbart hervorknatterten, wurden so laut, daß die Gesprächspartner sich beinahe anschreien mußten, und senkten sich dann auf ein erträgliches Maß.
»Wie ärgerlich«, sagte der Händler mit dem juwelenbestickten Kopftuch. »Ich hatte gehofft, Neuigkeiten über die Gefangennahme und - vielleicht auch Folterung - des Alten zu erfahren.«
Esur betrat den Raum, betrachtete sie alle mit unverhüllter Abneigung und begann die traurigen Überreste ihres Mittagessens abzuräumen. Zwei andere Sklaven gingen ihm zur Hand. Roilant musterte sie alle. Schlank, jung und dunkel. Was nichts zu bedeuten hatte. Ein allgemeines Seufzen erregte seine Aufmerksamkeit. Er wandte sich um und sah, was alle an seinem Tisch sahen, fasziniert, ungläubig und fassungslos. Auf der Treppe stand, lässig und unverhohlen amüsiert, ein junger Kavalier mittlerer Größe, kräftig gebaut und vornehm gekleidet, von lebendiger Schönheit und mit einem Schwert bewaffnet. Das Schwert allerdings steckte in einer Hülle aus weißem Leder, an der linken Hand funkelten keine Ringe und das schulterlange Haar war nachtschwarz. Eine Stufe höher stand ein zierlicher Page, eine Hyazinthe und eine Tigerlilie hinter dem linken Ohr.
Es gab nicht den geringsten Zweifel. Diese Erscheinungen waren niemand anders als die bezaubernde Dame und ihre Dienerin von vor zwanzig Minuten.
Die Frage lag auf der Hand, allerdings ohne daß es eine Antwort gegeben hätte. Waren das nun ein Knabe und ein Mann gewesen, in der Verkleidung von Magd und Dame? Oder waren sie Mädchen und Frau in der Verkleidung von Knabe und Kavalier? Dieses? Jenes? Beides?
Unter den Blicken vieler weit aufgerissener Augen kamen die beiden die letzten Stufen herunter. Als der Kavalier an Roilant vorbeiging, machte er eine formvollendete Verbeugung. »Guten Tag«, sagte eine Stimme, die sich von einem verführerischen Alt in einen weichen Tenor verwandelt hatte.
»Verdammt und zugenäht«, platzte der Priester heraus und wurde dann so rot wie eine Rose, während man ihn schulterklopfend beglückwünschte.
Roilant plumpste auf seinen Stuhl. In diesem furchtbaren Gasthaus war nichts das, was es zu sein schien. War er immer noch Roilant? Unglücklicherweise ja. Esur schlich sich an ihn heran, eine Platte mit abgenagten Knochen schützend vor sich haltend. Er hauchte ihm ins Ohr: »Mir ist noch eine Geschichte über Cyrion eingefallen -«
»Geh weg«, sagte Roilant.
Esur fletschte die Zähne und verschwand.
Bahnen aus goldenem Licht fielen durch die Fenster. Der Vogel in dem Käfig hüpfte herum und zwitscherte, und das Schnarchen des Soldaten ertönte jetzt mit der Regelmäßigkeit von Donnerschlägen.
Die Gesellschaft, der die Geschichten ausgegangen waren, löste sich in tränenfeuchtem Bedauern auf. Die drei Kaufleute gingen untergehakt mit ihren silbern und violett geschminkten Damen zu ihren Zimmern hinauf. Der Karawanenbesitzer, dessen Rechnung von dem Händler mit dem juwelenbestickten Kopftuch bezahlt worden war, schlenderte gähnend und sich reckend in den warmen Nachmittag hinaus. Auch der Gelehrte zog sich zurück, um seine Schriften und Pergamentrollen zusammenzupacken. Er wollte sich am folgenden Tag einer Karawane nach der Stadt Askandris in Kyros anschließen. Die Sklaven quollen aus der Küche, beschimpften sich gegenseitig und ließen Platten mit Essensresten fallen.
Schon bald waren der schnarchende Schnauzbart und der mutlose Roilant allein.
Der Wirt eilte herbei.
»Eure Schänke«, sagte Roilant, der den Wein ausgetrunken hatte, »ist ein Tollhaus.«
»Ihr sagt mir nichts, was ich nicht schon wüßte.«
Roilant starrte auf die großen Augen und fragte sich, ob die beginnende Glatze nur vorgetäuscht war.
»Übrigens, guter Herr«, meinte der Wirt mit einer Stimme, die auch verstellt sein konnte, »ich habe mich an den Mann erinnert, nach dem Ihr gefragt habt. Ihr habt Euch in dem Namen geirrt.«
»Habe ich das?«
»Allerdings. Er heißt Cyrion.«
Roilant schloß
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