Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Da gewöhnze dich dran

Da gewöhnze dich dran

Titel: Da gewöhnze dich dran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Giese
Vom Netzwerk:
habe gestillt und gestillt, aber du hast nichts drinbehalten!»
    «Mama, damals war ich ein halbes Jahr. Das ist über 30 Jahre her.»
    «Na und? An seinen Kinderarzt erinnert man sich doch sein ganzes Leben. Weshalb rufst du eigentlich an?»
    «Du wolltest wissen, wie es bei mir auf der Arbeit war.»
    «Du, da habe ich jetzt überhaupt keinen Kopf für. Ich bin auch nur reingekommen, um für Herrn Matussek einen Lappen zu holen, weil er so ölige Finger hat.»
    «Okay, dann erzähle ich es dir ein andernmal.»
    «Wir können ja morgen telefonieren. Ich grüße auf jeden Fall Herrn Matussek von dir.»
    «Mach das, Mama.»

[zur Inhaltsübersicht]
    Schlumperhosenabend
    Bei einem Neuanfang ist es wie beim Wandern im Nebel: Zu Beginn liegt alles vor dir wie ein Berg, aber du siehst den Weg nicht und auch nicht den Gipfel, nicht einmal das Geländer, das jemand dort angebracht hat, damit du einen guten Start hast, und an dem du dich bei deinen ersten Schritten nach oben festhalten kannst.
    Es ist früher Morgen, wenn du losgehst, du hast einen langen Weg, es ist kalt, du bist müde, du hast kaum geschlafen – zu nervös warst du vor Beginn deiner Tour, von der du weißt, dass sie anstrengend wird, von der du aber auch weißt, dass du sie hinter dich bringen musst, denn du hast sie dir selbst eingebrockt. Nun stehst du am Fuß deines Berges, jetzt geht es nur noch vorwärts, nicht zurück, die Sonne vertreibt den Nebel, du gehst die ersten Schritte, nimmst die ersten Höhenmeter, und wenn du dich das erste Mal umdrehst, kannst du schon den Blick ins Tal genießen.
    Ich habe bislang nirgendwo anders gelebt als im Sauerland, meine Familie ist niemals umgezogen. Seit frühester Kindheit lebte ich in einem Reihenhaus mit Nachbarn, die mich haben aufwachsen sehen. Ich kenne jedes Geräusch in unserem Haus – und auch in dem nebenan. Ich weiß, wie es sich anhört, wenn «Onkel Konrad», der Nachbar, der nicht mein Onkel ist, den ich aber so nenne, ins Bett geht, ja sogar, wie es klingt, wenn er pinkelt. Desgleichen kenne ich alle Geräusche, die es in unserem eigenen Haus gibt, Geräusche, die, als wir noch zusammenlebten, meine Eltern machten, auch die, die das Haus selbst macht, wenn es nachts atmet, wenn eine Uhr Mitternacht schlägt, wenn eine Tür quietscht oder eine Treppe knarrt, wenn ein Gegenstand gegen das Geländer stößt, wenn das Badewasser eingelassen wird oder die Heizung anspringt. Ich kann an den Schritten, am Rhythmus des Ganges und am Knacken der Sehnen und Gelenke hören, wer sich durch den Hausflur die Treppe hinaufbewegt und in wenigen Atemzügen in meiner Zimmertür stehen wird. Ich weiß auch genau, wie es sich anhört, wenn Menschen klingeln. Der Paketbote macht ein schmuckloses «Diing – Doong», kurz und präzise, die Nachbarskinder klingeln ein stürmisches «Dingdongdingdongdingdong», und Tante Eva, die Frau von Onkel Konrad, kündigt sich mit einem etwas schläfrigen «Ding», Pause, «Dong» an.
    Genauso wie die Geräusche kenne ich die Umgebung, kenne jeden Baum und jeden Strauch, habe zu jeder Straßenecke ein persönliches Erlebnis, sogar zu solch unprätentiösen Dingen wie Stromverteilerkästen, auf denen ich im Sommer mit den Nachbarskindern saß und Wassereis lutschte. In der Nähe meines Elternhauses gibt es eine ausgedehnte Wiese, einen Wald und einige Äcker. Durch die Wiese schlängelt sich ein kleiner, von Bäumen gesäumter Bach, den wir tagsüber stauten und abends, wenn unsere Hosen mit Matsch beschmiert und unsere Wangen vom Tag gerötet waren, wieder fließen ließen.
    Ich kenne in dieser Gegend jedes Fleckchen Gras, weiß, wo die meisten Butterblumen und die größten Brennnesseln wachsen, kenne die Ecke mit den Kletterpflanzen, die wir uns als Kinder gegenseitig auf den Rücken klebten, kenne die Ameisenhaufen im Wald und die Stelle, an der wir im Herbst die meisten Kastanien finden. Ich kenne jeden Baum am Bach und weiß, dass auf halber Strecke zum Schützenheim eine Pappel steht, deren Äste wie eine Leiter wachsen. Wenn ich als Kind den untersten erklommen hatte – mit einem Reck-Aufschwung, den wir uns gegenseitig beigebracht hatten –, konnte ich die restlichen Zweige hinaufsteigen wie eine Treppe, bis es zu sehr schwankte und ich es mit der Angst zu tun bekam.
    Überall an diesen Orten bin ich zu Hause, überall habe ich etwas erlebt, mit all diesen Orten verbinde ich Erinnerungen, sie sind gleichzeitig ein Hafen und ein Paradies der Freiheit und des

Weitere Kostenlose Bücher