Da haben wir den Glueckssalat
morgen früh vorbei.«
» Okay«, sage ich. Ein schmerzhaft dicker Kloß hat sich in meiner Kehle gebildet. » Ich hab euch auch alle lieb.«
Ich lege auf, und eine Sekunde lang herrscht nichts außer Stille. Ein stiller Flur in einer stillen Polizeiwache in der lautesten Stadt der Welt. Dann bringt mich die Wache wieder zurück in die Zelle, während ich mir auf dem Weg hektisch das Gesicht abwische.
» Und, Bollywood? Hat sich dein Irrer blicken lassen?«, ruft Peaches.
» Er ist abgetaucht«, sage ich. » Ich habe keine Ahnung, wo er ist.«
» Der wird sicher wieder auftauchen«, entgegnet sie. » Das tun sie immer.«
Ich setze mich auf die Bank, abseits in einer Ecke der Zelle. Ich werde nicht mehr weinen. Das hier wird mich nicht zerbrechen.
Und dann schließe ich die Augen und konzentriere mich auf unser Heim. Ich denke an die abblätternde Rosentapete und an die knarrenden Holzdielen unter dem Teppichboden. Ich denke an den Ausblick von meinem Zimmer auf die Union Street und daran, wie sich der Couchbezug an meiner Wange anfühlt, wenn wir zusammen vor dem Fernseher abhängen. Ich denke an Vic und Marie, die unter uns wohnen und über uns wachen. Und ich denke an den Küchentisch und daran, wie es ist, wenn wir alle darum versammelt sind.
Und plötzlich werde ich ganz ruhig.
Ich werde das überstehen.
26
Die Anklageerhebung dauert ungefähr neun Sekunden, und mit diesem seltsamen Jetlag-Gefühl, das daher rührt, dass ich die ganze Nacht nicht geschlafen und meine Zähne nicht geputzt habe, brauche ich einen Moment, bis mir bewusst wird, dass Madeleine allein gekommen ist. Sie zahlt gerade die Geldstrafe. Wir reden erst, nachdem wir das Gebäude verlassen haben. Aber zuallererst fallen wir uns in die Arme und umklammern uns– eine unendlich scheinende Minute lang.
» Es tut so gut, dich zu sehen! Hast du letzte Nacht schlafen können? Geht es dir gut?«, fragt sie im selben Moment, als ich sage: » Es tut so gut, dich zu sehen! Es tut mir unheimlich leid, ich zahle dir die Kohle auch ganz schnell zurück, das verspreche ich… Wo sind die anderen?«
» Marie ist letzte Nacht gestorben«, sagt Madeleine.
Mir stockt der Atem.
» Die anderen sind bei Vic geblieben, bis Maries Kinder eintreffen. Sie kümmern sich bereits um alles Nötige, und wir… wir wollten nicht, dass Vic allein ist.«
» Oh, natürlich…« Mir ist heiß und schwindelig. Marie, tot? » Wie… wie…«
» Im Schlaf. Sie ist wohl ganz friedlich eingeschlafen. Pia, du wirst ja ganz weiß im Gesicht. Ist alles…«
Ich setze mich an Ort und Stelle auf den kalten Asphalt, weil ich befürchte, sonst zusammenzubrechen. O Gott, arme Marie. Armer Vic. Arme Coco und arme Julia…
Madeleine kniet plötzlich neben mir und hält mir eine Flasche an die Lippen. » Pia? Atme einfach, okay? Trink ein bisschen Wasser…«
Ich nippe daran, dann schlinge ich die Arme um die Knie und starre auf die kalte Bordsteinkante zwischen meinen Füßen. Es regnet heute zum ersten Mal seit Monaten, und es weht ein frischer Oktoberwind, und ich friere von innen wie von außen. O Gott, Marie und Vic…
Madeleine zieht ihren Pullover aus und legt ihn mir um die Schulter. » Komm.« Sie packt mich unter den Armen und zieht mich hoch. » Ich will nicht, dass du verhaftet wirst wegen Herumlungerns.«
» Ich fühle mich nicht besonders.« Meine Stimme klingt ganz hoch und dünn.
» Du musst was essen.« Madeleine schleppt mich zu einem Imbisswagen an der Ecke, wo sie eine Cola und einen Bagel mit Erdnussbutter für mich kauft.
Ich stehe wie betäubt neben ihr, während die Drähte in meinem Gehirn glühen. Armer Vic. Armer, lieber Vic. Seine Eleanor ist gestorben, Julias Mutter und Tante sind gestorben, seine Schwester ist gestorben… Er muss sich sehr allein fühlen.
Wie schrecklich muss es sein, wenn man niemanden mehr hat, der das Leben von früher kennt, als man selbst noch jung war. Wie schrecklich, der einzige Mensch zu sein, der all die Erinnerungen bewahrt.
Schweigend fahren wir mit der U-Bahn zurück nach Brooklyn. Wir sitzen in Gedanken versunken in dem halb leeren Abteil, ich esse den Bagel und trinke die Cola, ohne irgendetwas zu schmecken. Dann drehe ich den Kopf zu Madeleine. Sie trägt nur noch ein kurzärmliges T-Shirt und streicht geistesabwesend über die Innenseite ihres Handgelenks, das mit winzigen hellen Narben übersät ist. Ich habe noch nie zuvor ihre nackten Arme gesehen.
» Ritzt du dich?«
» Nein«, sagt sie und
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