Da hilft nur noch beten
voll von solchen Wahnsinnstaten. Tabula rasa. Mach kaputt, was dich kaputtgemacht hat. Jessica ihn, er Jessica. Yemayá nur als Mittel zum Zweck.
Gott, das ist doch Kolportage übelster Art! Was denn, die ganze Weltgeschichte ist doch ein einziger Kolportageroman. Reden sich die Menschen ein, eine Gottheit hätte einer jungfräulichen Zimmermannsfrau ein Kind gemacht; ist einer so unverschämt zu behaupten, er sei Gottes Sohn, und auch dieses Jahr ist wieder Weihnachten… Mannhardt, Mannhardt, du denkst dich noch um Kopf und Kragen!
Tat er nicht, denn er mußte blitzschnell aus dem engen Wagen springen, reagierte trotz seines hohen Alters noch reaktionsschnell wie ein Torwart beim gehaltenen Elfmeter, erwischte Stefanie noch, bevor sie Jessicas Hausflur erreichte.
«Hallo! Du brauchst gar nicht erst nach oben gehen, da ist sowieso keiner…!»
«Ich bring euch nur eure Ausweise wieder.»
«Das ist lieb von dir!» Mannhardt steckte alles ein. «Du, ich muß…!»
«Ich auch, ich will noch reiten heute!»
«Nachschub für die Pferdewurstfabrik, prima…!»
Sie stöhnten noch ein Weilchen über ihre Blasen und bleischweren Füße, und Mannhardt zitterte beträchtlich, denn eine Katastrophe wäre es nicht gewesen, wenn Wuthenow nun vorbeigekommen wäre, aber besser war es schon, ihre Neugierde wurde gar nicht erst geweckt.
Überflüssige Vorsichtsmaßnahme, Überängstlichkeit; war er schon angesteckt worden? Ja und nein. Das war schon eine Riesenstory: Führender SED-Ideologe mit rassiger Geliebter im Westen – seine kleine Tochter entführt. Für die hiesige Klatschpresse fast ein Millionending. Bonn fürchtet Eintrübung des deutsch-deutschen Klimas.
Klar, daß da Dichthalten angesagt war.
«Darf ich dich noch um die Ecke bringen?» fragte Mannhardt, forschte schon nach ihrem gelben Passat.
«Was denn: ihr begeht jetzt eure Morde selber…?»
«Wie…? Ach so, ja…» Es fiel ihm heute schwer, darüber zu lachen.
Als sie davonfuhr, war er sichtlich erleichtert, lief wieder zu seiner grünen Ente zurück und zwängte sich hinein.
Immer noch kein Wuthenow, und er fragte sich langsam, was der denn wohl da oben machte. In einer Situation wie dieser war doch wohl nicht anzunehmen, daß sie sich auch noch in den Betten wälzten. Obwohl Jessica in dieser Hinsicht alles zuzutrauen war. Schäm dich, du bist gemein!
Er schaltete das Radio ein, fluchte, weil da wieder irgendein Geisteskranker, von seiner Band begleitet, Weltschmerzschreie ausstieß, fand dann endlich einen Sender, bei dem sie die Sprache noch nicht ganz vergessen hatten, merkte, daß es sich dabei um die Stimme der DDR handeln mußte, oha!, und erbaute sich dann an einer wieder aufgewärmten Honecker-Rede vom IX. Parteitag (1976).
«Die Tatsachen beweisen: Die wahrhaft menschliche Ordnung ist der Sozialismus. Hier kann sich das Schöpfertum des Menschen frei entfalten. Die Jugend besitzt eine sichere Perspektive, Bildung und Kultur stehen allen Bürgern offen. Die allgemeine Lebensatmosphäre ist von Optimismus, Sicherheit und Geborgenheit gekennzeichnet. Voraussetzung für ein solches Leben ist die politische Macht der Arbeiterklasse, deren Interessen mit denen aller Bürger übereinstimmen. Der Sozialismus bietet eine gesicherte Gegenwart und eine helle Zukunft für die Menschen…»
Mannhardt schluckte: was für ‘n Zufall, was für ‘n Regieeinfall der höheren Mächte, daß just in diesem Augenblick der Mann erschien, der diese Worte vielleicht/womöglich/unter Umständen geschrieben, auf alle Fälle aber vorgedacht hatte: Friedrich-Wilhelm Wuthenow. Ein wenig müde und gebeugt, keine rechte Gorbatschow-Dynamik mehr. Ja, wenn alles auf der Kippe stand…!
Mannhardt freute sich, daß er der Mannhardt war und nicht der Wuthenow, eine Welle Euphorie kam auf. Kleiner Mann, großer Mann, eins zu null für ersteren.
Wuthenow ging zur Pariser Straße hinüber, wo sein schwarzer Volvo parkte, und Mannhardt dachte, daß er sich vieles erspart hätte, wenn sie letztes Jahr auf Kuba einen Pariser…
Wuthenow stieg ein und fuhr dann links die Uhlandstraße hinauf, und zwar so zügig, daß Mannhardt, der mit dem vorsintflutlichen Gefährt seines Erstgeborenen ungemeine Mühe hatte, kaum den Anschluß halten konnte, auf dem Kudamm, wo sie stadtauswärts rollten, ziemlich schnell an die fünfzig Meter verlor.
Was ihn da fluchen ließ, geriet jedoch alsbald zum Segen, denn ohne diesen seinen technologischen wie metermäßigen Rückstand wäre ihm
Weitere Kostenlose Bücher